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Der Tod befreit zum Leben

Matthias Uhlich • 7. April 2022

Teisho April 2022

Teisho 4/22
„Der Tod befreit zum Leben“

Vom kirchlichen Kalender her befinden wir uns wieder in der sog. Passionszeit - und jetzt auch konkret vor der Karwoche, in der die Christenheit das Leiden und Sterben Jesu intensiv betrachtet.

Und wir alle sind wohl von Kindesbeinen an in diese Leidensmystik in unterschiedlicher Weise hineingezogen, hinein gewachsen. Und jede/r hat so seine ganz persönlichen Erfahrungen mit dieser Zeit gemacht.
Und oft ist es dabei geschehen, dass wir den Tod und das Leiden als dunkle Bedrohung des Lebens und als Zerstörung der Schönheit unseres Daseins vermittelt bekommen haben.

Aber Tod und Sterben, das Leben loslassen können, das ist tatsächlich ein vollkommen natürlicher Prozess, der zu unserer Existenz dazu gehört und ohne den wir nicht leben und uns entwickeln können.
Eine Verherrlichung des Leidens allerdings ist Unsinn, sie führt uns nur noch in größeres Leid hinein und macht Menschen depressiv, zerstört alle schöne, ursprüngliche Lebendigkeit.

Das heisst aber andererseits auch nicht, das Leiden zu verdrängen oder nicht wahrhaben zu wollen.
Wenn Sterben und Leid in unser Leben tritt, so können wir es wachsam und voller Würde wahrnehmen und es auch annehmen, denn es hat oftmals eine uns verwandelnde Kraft und kann Ansporn für Neues sein und zu einer Lebendigkeit helfen, die uns hilft, die Schönheit unseres Daseins wieder neu zu entdecken. 
Nichts in unserer Natur ist darauf angelegt das Leiden zu preisen oder gar zu verherrlichen und in ihm zu versinken. Dies wäre gewiss eine Verdrehung und Perversion unseres natürlichen Lebens, das immer wieder neu die Fülle und Erfüllung sucht.

Leiden und Angst stellt sich oft dann ein, wenn wir Widerstände dagegen aufbauen, wenn wir klammern und anhaften und das Loslassen nicht zulassen können.
Wenn wir jedoch frei werden von der Last des Gestern, können wir offen werden für unseren Weg, für seine Entfaltung für seine Lebendigkeit. 

Jesus hat einmal gesagt: „Wer sein Leben bewahren will, der wird es verlieren.“ 

Und Thich Nhat Hanh formuliert ähnlich:
„Leben und Tod sind wechselseitig voneinander abhängig.
Niemand braucht Angst vor dem Sterben zu haben, denn sterben bedeutet, gleichzeitig als etwas anderes geboren zu werden. Wenn eine Wolke stirbt, wird sie Regen.“

Was macht es gerade in unserer christlich-abendländischen Tradition so schwierig, dass Menschen oftmals den Tod verdrängen und das Leiden weit von sich schieben?
Vielleicht sind es ganz verschiedene Facetten, die uns dazu bringen mit dem Leiden und dem Sterben eher schwer umzugehen.

Zum einen ist es wohl die Erfahrung der so genannten Karwoche, die uns das Leiden Jesu – und damit auch unser Leiden so elementar vor Augen führt. 
Und davor fürchten wir uns. 
Das wollen wir auf gar keinen Fall!
Und was für manche in besonderer Weise noch einmal eine Belastung ist, J.S. Bach hat es in der Johannes Passion meisterhaft vertont: „Ich, mein Herr Jesu, habe dies verschuldet, was du erduldet. ….. Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe! Der gute Hirte leidet für die Schafe, die Schuld bezahlt der Herre, der Gerechte, für seine Knechte.“
(„Oh Haupt voll Blut und Wunden“)
Mit diesen Gedanken ist die Sündenbock Problematik aus dem AT ins NT und die gesamte christliche Tradition gewandert.
Und die macht uns bis heute zu schaffen, nicht nur in der jüngeren deutschen Geschichte wo es die Juden waren, in denen man den Grund allen Übels sah. (Auch in diesen Tagen ist manchen die Sündenbock Thematik sehr nahe gekommen.) 

Für mich als einzelnen ist wohl wichtig, dass ich es erkenne, wenn ich meine Probleme, meine Angst, immer wieder auf andere verlagere anstatt sie bei mir zu lösen, zu erlösen. Wir alle kennen wohl diesen Satz: „du aber ….“ ganz gut.
Und so lange wir dieses „du aber“ sagen, so lange nehmen wir die Verantwortung für das, was mit uns oder durch uns geschieht nicht zu uns, sondern verschieben sie ganz oder zum Teile auf die anderen, auf das „Du“.
Vielleicht ist das ein Grund warum Menschen heute oftmals so eigenartig unreif und kindlich erscheinen.

Und noch eine andere Facette, die mir wichtig scheint, der Tod ist am Karfreitag dunkel schwarz, schwer und duster lastend gezeichnet. 
Schwarz wird der Altar verhängt, die Kerzen werden gelöscht in der Kirche und es ist eine dumpfe Dunkelheit zu spüren.
Der Tod ist nun starr und lähmend ganz gegenwärtig.
Im krassen Gegensatz stehen dazu die Berichte von Menschen, die eine Nahtoderfahrung gemacht haben. Sie erzählen oftmals ganz anderes. Da wird meistens von viel Licht und Freude und einer tiefen Erfahrung von Liebe erzählt, denen die Menschen in der Erfahrung des Todes begegnen. 
Menschen haben mir oftmals nach einem solchen Erleben von der Schönheit und dem Glück dieser Erfahrung berichtet. „Herr Pfarrer, seitdem ich das erlebt habe, habe ich überhaupt gar keine Angst mehr vor dem Tod.“, so habe ich es öfter gehört.

Aber warum haben dennoch Menschen so viel Angst vor dem Tod und dem Sterben?
Da ist wohl auch, dass wir von Kindesbeinen an von der Religion her gelernt haben - und dieser Satz hat sich tief in das Leben der Menschen eingegraben: 
„Der Tod ist der Sünde Sold.“
Jene verhängnisvolle Aussage, die immer wieder Tod und Sterben mit Sünde und Versagen zusammenbringt. Darum ist es wohl auch so, dass so viele Menschen vor dem Sterben Angst haben, weil sie meinen, dass sie dann mit ihren „Sünden“ zur Rechenschaft gezogen werden, denn ihr „sündiges Leben“ ist ja der Grund, dass sie nun sterben müssen. Der Tod ist nun die Strafe, die dieses Leben verdient hat. 
Welch furchtbares Sterben kann aufgrund dieses Denkens immer wieder geschehen.

Viele weise Menschen haben uns aber immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass das eben Geschilderte so nicht stimmt.
Hermann Hesse hat es einmal sehr schön gesagt indem er formulierte: 
“Nach jedem Tod wird das Leben zarter und feiner“. 
Eine wunderbare Formulierung.
Das ist eine ganz andere Art den Tod wahrzunehmen und den Tod zu begrüßen als eine Kraft, die uns weiter führt und uns dann in immer neue Formen der Lebendigkeit ziehen will. Zarter und feiner und lebendiger als jemals – aber nur, wenn wir es annehmen können dieses Sterben von Altem, kann sich unser Dasein verwandeln, zarter, feiner werden.

Tatsächlich haben Geburt und Tod eine ganz wichtige Funktion in unserem Leben, einfach deswegen, weil sie uns sensibler machen und unsere Aufmerksamkeit auf das Leben, auf die Lebendigkeit hin ausrichten. 
Das Leben wird umso kostbarer je mehr wir uns dem Tod und dem Sterben stellen. 
Die Kostbarkeit unseres Daseins erfahren wir durch den Tod noch einmal in besonderer Weise. Das Wissen um den Tod zentriert uns und macht uns wach, ermutigt uns, ehrlich und aufrichtig zu fragen, warum sind wir/bin ich wirklich hier?
Was will ich leben?
Was ist der Sinn und Ziel meines Lebens, das gestaltet und entfaltet werden will?

Wenn wir diese Schönheit unseres Dasein so ganz elementar erfahren, dann kommt gerade in diesen Momenten der Wunsch nach Dauer, das Festhalten, das Anhaften an dem, was wir gerade so glückhaft erleben auf. Aber gerade das festhalten wollen macht unser Leben wieder eng, verursacht Schwierigkeiten und Schmerzen und macht jegliche Entwicklung und Veränderung unmöglich.
Das loslassen, das frei werden und nicht immer wieder alles so haben wollen wie es schon immer war, führt uns in eine ganz unmittelbare Lebendigkeit. Wir werden aus der Starre in die Vielfalt und Flexibilität, in die Kreativität geführt. 
Und so wird Wachstum, Veränderung, Reifung möglich. 
Nur das Annehmen und immer wieder sich lassen und zulassen können, macht unser Leben wirklich lebendig. Im Mitgehen ergeben sich immer neu Räume, die gelebt, gefüllt und gestaltet werden wollen. 
Und in dieser Wandlung erfährt unser Leben Reife und Weite und Schönheit.

Osho sagt: “Das Kind wird zum Jugendlichen, der junge Mann wird alt. Wer gestern lebendig war, ist morgen tot. 
Wenn du all diese Veränderungen, das so sein der Dinge, akzeptierst und es voller Freude erlaubst, weil du weißt, dass das Leben so ist, kann dich niemand mehr von deiner Seligkeit abbringen.“

Wir suchen in unserem Leben Glück und Seligkeit und Freude und Erfüllung. Und oftmals meinen wir, wir könnten das machen und wenn wir es „haben“, dann wollen wir es festhalten und nie mehr loslassen. 
Aber gerade das ist es, was uns daran hindert wirklich frei und glücklich und lebendig zu sein. Unser haben wollen und unser Sicherheitsbedürfnis machen uns eben so eng, dass am Ende nur noch Starre und ein in sich verkümmertes Leben ist. (Und bei manchen Menschen hat man manchmal das Gefühl, dass sie zwar noch leben aber eigentlich schon tot sind.)
Und oftmals sind es auch diese Menschen, die, um dem Tod zu entgehen oder ihn möglichst lange hinauszuschieben, planen und versuchen, so gut es geht sich zu versichern, das Leben abzusichern und es in den Griff zu bekommen. 
Und manchmal fragen sich Menschen dann, wenn dies gelungen scheint, ist es wirklich das, was ich leben will, ist das wirklich schon Lebensqualität, Lebendigkeit?

Hans Christian Anderson hat eine kleine Geschichte dazu geschrieben:
An manch einem warmen Sommertag hatte die Eintagsfliege um die Krone eines alten Baumes getanzt, gelebt, geschwebt und sich glücklich gefühlt, und wenn dann das kleine Geschöpf einen Augenblick in stiller Glückseligkeit auf den großen frischen Blättern ausruhte, so sagte der Baum immer: „Arme Kleine! Nur einen Tag währt dein ganzes Leben! Wie kurz ist das! Wie traurig!“
„Traurig?“, erwiderte dann stets die Eintagsfliege. „Was meinst du damit! Alles ist so herrlich licht, so warm und schön, und ich selber bin so glücklich!“ 
„Aber nur einen Tag, und dann ist alles vorbei?“ 
„Vorbei“, sagte die Eintagsfliege, „was ist vorbei? Du bist auch vorbei?“
„Nein, ich lebe vielleicht Tausende von deinen Tagen, an meinem Tag sind ganze Jahreszeiten! Das ist etwas so Langes, dass du es gar nicht ausrechnen kannst!“ 
„Nein, denn ich verstehe dich nicht! Du bist Tausende von meinen Tagen, aber ich habe Tausende von Augenblicken, in denen ich froh und glücklich sein kann! 
Hört denn alle Herrlichkeit dieser Welt auf, wenn du einmal stirbst?“
„Nein“, sagte der Baum, „die wird gewiss viel länger, als ich denken kann!“ – 
„Aber dann haben wir ja gleich viel, nur dass wir verschieden rechnen!“

Diese kleine Geschichte nimmt den Gedanken von eben auf, der meint, dass wir unser Leben planen und gestalten könnten und es dann so festhalten, so lange wie nur irgend möglich, wie es ist. 
Damit aber verlieren wir alle Lebendigkeit.

Und noch ein anderes Problem wird an dieser Geschichte deutlich. Oftmals verschieben wir das Leben auf morgen, weil wir glauben, dass wir noch eine große Zahl an Tagen vor uns haben. 
Vielleicht kennt ihr es auch aus eurer Kindheit, die Sehnsucht endlich gross und erwachsen zu werden und dann frei zu sein, um das leben zu können, was man will; und dann waren wir groß und dann wollten wir endlich viel Geld verdienen, um leben zu können; und dann haben wir viel gearbeitet und wir haben uns auf die Zeit gefreut oder freuen uns noch auf die Zeit, wo wir dann endlich Zeit haben werden, um all das zu leben, wonach wir uns seit den Kindertagen sehnen.  
Ihr kennt vielleicht das, was ich meine, dass wir unser Leben immer auf morgen verschieben und am Ende glauben wir dann das, was wir von Kindesbeinen an von der Religion gelehrt bekommen haben – nämlich, dass im Himmel dann endlich das ersehnte paradiesische Leben uns entgegenkommt.
Im 19. Jahrhundert waren es einige Philosophen und Schriftsteller, die immer wieder angemahnt haben, „Brüder bleibt der Erde treu“. 
Heinrich Heine, Friedrich Nietzsche um nur zwei zu nennen waren es, die immer wieder Menschen aufriefen im Heute, im Hier und Jetzt zu leben. Und Heinrich Heine hat es in einem Gedicht so formuliert: 
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.
Es wächst hienieden Brot genug für alle Menschenkinder
Und Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.
Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.

So wie es die Eintagsfliege dem Baum sagt, es geht um den Augenblick, es geht um das Jetzt, in dem ich ganz glücklich bin und die ganze Fülle des Daseins, meines Lebens fühlen und leben lerne.

Meister Hakuin hat einmal seinen Schülern folgende Übungsanweisung gegeben:
„Meine lieben, teuren Freunde! Sterbt einmal, solange ihr noch am Leben seid. Dann könnt ihr wirklich leben und werdet nie wieder sterben.“

Meditation üben heißt loslassen lernen, heißt sterben lernen – die Kunst des Sterbens zu lernen.
Und die Kunst des Sterben Lernens ist die Kunst, immer vertrauter zu werden mit dem Grund, der uns trägt und weiter führt - von Geburt bis zum Tod - und darüber hinaus.
Es ist die Erfahrung der Einheit mit ALLEM, mit der Wesensnatur, wie es im Zen benannt wird.

Und hierher gehört auch der Gedanke, dass die Wesensnatur nicht geboren wird und darum kann sie auch nicht sterben. 
Sie ist das Leben hinter den Schleiern unseres Alltags. 
Wenn wir dem Tod entrinnen wollen - und das klingt nun widersprüchlich - dann müssen wir das Sterben zulassen und keine Angst mehr davor haben. 
Ein Mensch, der den großen Tod gestorben ist, kennt seine wahre Natur und weiss, dass der Tod ein Durchgang in eine neue Existenz ist.
Und ihr kennt den Satz: Wer stirbt, bevor er stirbt, stirbt nicht, wenn er stirbt. 
Und ihr wisst es auch, der große Tod, den wir sterben, ist nicht der Tod, der am Ende unseres Lebens steht, sondern es ist das Sterben, das wir mitten im Leben erfahren, wenn wir ganz ins Leben durch brechen. Dann erfahren wir, dass es nur diese eine Lebendigkeit, dieses eine Leben gibt.
Der Tod, die Tode, die wir immer wieder sterben müssen, um lebendig zu bleiben, machen uns dann keine Angst mehr, sondern sie haben einen Geschmack von Leben, weil wir eins mit dem Leben sind und so niemals sterben können.
Menschen erfahren dann, dass das Leben uns in jedem Augenblick trägt - in hellen und in dunklen Stunden, in der Freude und im Glück und in der Trauer, in Schmerzen und Angst. Darum ist der Augenblick, das Jetzt, das wir auf unserem Meditationsplatz üben so wichtig, denn nur im Augenblick erfahren wir die „Ewigkeit“, ganz gleich wie lange wir auf dieser Erde leben, und wie alt wir einmal werden.

Matthias Uhlich (Hong zhi), im April 2022

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