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"Müdigkeit und Schmerzen bei der Meditation"

Matthias Uhlich • 11. September 2020

Teisho August 2020

Teisho Müdigkeit / Schmerzen


In diesem Teisho möchte ich ganz gerne etwas zum Thema Müdigkeit und Schmerz sagen.

In unserer heutigen Gesellschaft ist Müdigkeit, müde sein eher verpönt.
Wer müde ist der taugt nichts, weil er keine volle Leistung bringt. Und so ist müde sein auch sehr eng mit einer Wertung verbunden, nämlich der, dass jemand, der müde ist weniger Leistung bringt und darum nichts taugt. Und darum pushen sich Menschen mit Kaffee, Red Bull, mit Aufputschmitteln und Medikamenten, um wach zu bleiben und leistungsfähig zu sein. Und weil sie dann oftmals überdreht sind und abends nicht mehr zur Ruhe kommen, nehmen sie, um einzuschlafen Beruhigungsmittel, Schlaftabletten.

Mit diesem Anspruch, nämlich dem, gut zu sein und alles richtig zu machen, sind dann manche auch auf dem Kissen auf ihrem Meditationsplatz zur Meditation. Wie oft habe ich im Dokusan schon gehört, ich habe an dem und dem Tag nicht meditieren können, weil ich zu müde war.
Oder auf dem Sesshin sagen mir Teilnehmer immer wieder auch, ich bin so müde und kann nicht mehr richtig meditieren. 
Und man sieht es dann auch, wie die Augen zufallen, der Körper hin und her schwankt, taumelt, zusammenzuckt und wieder aufschreckt. 
Das kann keine gute Meditation sein - wieder habe ich das halbe Sesshin verpennt.
Ihr kennt das, was ich in diesem Zusammenhang sage, nämlich wenn du müde bist, dann meditiere müde, dann sitz‘ einfach müde.
Hört auf zu werten, als wäre ein müdes Sitzen schlechter als ein so genanntes waches Meditieren. Wenn ich im Zenit meines eigenen Fettes sitze, dann glaube ich gut zu sein und eine tolle Meditation zu haben. 
Mingyur Rinpoche hat in seinem Buch, „Auf dem Weg“ auch ein Kapitel über die Müdigkeit, den Schlaf geschrieben, in dem er sagt: 

Wir neigen dazu, den Schlaf als notwendige, biologische Unterbrechung des Lebens zu betrachten. Wir nehmen das Auflösen der Sinne als selbstverständlich hin und kümmern uns normalerweise nicht darum, was dabei geschieht. Wie Zugedröhnte und Betrunkene verlieren wir einfach das Bewusstsein. Doch dieser Prozess des Auflösens entspricht dem physischen Sterben; tatsächlich erleben wir Nacht für Nacht einen Mini-Tod. Jede Nacht gehen wir mit einem stabilen Selbstgefühl zu Bett. Während unser Bewusstsein schwächer wird, verlieren die Bindungen, die den konventionellen Geist an Ort und Stelle fixieren, ihre Klebkraft. Das physische Abschalten des fundamentalen Versorgungsnetzes des Körpers absorbiert in diesen Prozess die fixierten Parameter des kleinen Selbst und entlässt uns automatisch in Universen weit jenseits der Grenzen unseres wachen Lebens. (Yongey Mingyur Rinpoche, Auf dem Weg, S. 171) 

Das ist eine ganz andere Wahrnehmung von Müdigkeit und Schlaf. Da spricht jemand vom Schlaf nicht als Behinderung oder Eingrenzung, sondern eher vom ganzen Gegenteil. Wenn wir bewusst damit umgehen, können wir diese Grenzerfahrung als Chance wahrnehmen, um die Erfahrung zu machen, dass sich jenseits der Müdigkeit etwas anderes Neues öffnet. Dass wir über den Schlaf Zugang in eine andere Bewusstseinsebene bekommen. 
Der Rinpoche spricht es an, es ist die Ebene der Träume, in der wir manchmal eine Menge über uns selbst erfahren, weil unsere Seele dann ganz unzensiert vom Intellekt zu uns redet. 
Und darum scheint es mir wichtig, dass wir diese Ebene als einen wichtigen Zugang zu uns selbst wahrnehmen.
Ihr kennt von mir den Gedanken, wenn ich sage, seid müde, lasst den Körper schlafen, aber „seid unten drunter wach“. Das ist in der Tat eine oftmals etwas unbeholfen klingende Aussage. Mir fehlen da oftmals die richtigen Worte, um das auszudrücken, was ich meine. Beim Rinpoche habe ich noch einmal schön formuliert gefunden, was er dazu zu sagen hat:

Die meisten von uns können beim Einschlafen das Auflösen der Sinne nicht aufspüren: Irgendwann beim Einschlafvorgang sinkt unser Gewahrsein genauso in den Schlaf wie unsere Sinnesorgane. Um in der Lage zu sein, das Erkennen des Gewahrseins den ganzen Prozess hindurch beizubehalten, bedarf es einer Menge Praxis und eines außergewöhnlich empfindsamen Geistes, wie ihn Seine Heiligkeit, der sechzehnte Karmapa (Rangjung Rigpe Dorje, 1924-1981) entwickelt hatte. Wenn er von Gewahrsein sprach, meinte er pures, nicht-duales Gewahrsein, Gewahrsein ohne einen Beobachter. (Yongey Mingyur Rinpoche, Auf dem Weg, S. 172) 

Und weiter erzählt er dann ganz persönlich:

Kaum war ich in der Haupthalle, nickte ich ständig ein. Ich probierte alle Tricks, um mich wachzuhalten, verdrehte die Augen und bohrte meine Fingernägel in die Schenkel, aber ich dämmerte immer wieder weg. Dann dachte ich: Also gut, dann versuche ich eben, Schlafmeditation zu praktizieren. Zuerst hatte ich ein bisschen das Gefühl zu fallen; dann beruhigte sich mein Geist, und ich konnte etwa fünf Minuten lang im meditativen Gewahrsein ruhen, bis ich diesen Zustand wieder verlor und wie üblich einschlief. Nach ein paar Minuten wachte ich auf und war dann, als ich abermals einschlief, zum ersten Mal in der Lage, meinem Gewahrsein zu folgen. Als ich aufwachte, fühlte ich mich sehr ausgeruht, sehr leicht, und mein Geist war in Meditation. Friedlich, entspannt. Offen mit Klarheit. Das war das erste Mal. Für mich ist die beste Zeit zum Praktizieren der Schlafmeditation immer noch während einer Meditationssitzung, wenn ich sehr müde werde und einschlafe, oder während einer dieser unbeschreiblich langen, langweiligen Zeremonien. (Yongey Mingyur Rinpoche, Auf dem Weg, S. 173 ff.) 

Das Schöne an diesem Buch ist, dass hier ein Mensch, ein Mönch, ein Abt sich vorstellt, der wie wir auch aus Fleisch und Blut ist. Der von seiner Müdigkeit erzählt und auch an anderer Stelle von seinen Ängsten und Zweifeln und, auch damit verbunden, Panikattacken berichten kann.
Hier zeigt sich nach meiner Wahrnehmung eine echte Zen-Persönlichkeit, jenseits von allen Hochglanz-Fotos meditierender Mönche, ganz menschlich in seinem Suchen und Fragen, mit seinen Unsicherheiten und Ängsten und des immer neuen Fragens und Ringens um den Weg. 
So jemand ist uns sehr nahe, verwandt – und gerade so auch darin Hilfe und Weggefährte.

Aber zurück zum Thema Müdigkeit beim Sitzen. 

Wann und wo auch immer, ob auf einem Sesshin oder zu Hause auf unserem Sitzplatz oder wenn ihr nachts einschlaft, probiert es einmal aus, dass der Körper müde sein darf, ihr aber „untendrunter“ präsent bleibt, im Gewahrsein bleibt, wie der Rinpoche es sagt.
Das gelingt nicht auf Anhieb, man muss es probieren und immer wieder dabeibleiben, es versuchen, so wie es beschrieben ist. 
Wenn wir da dranbleiben, werden wir merken, wie sich dann plötzlich etwas wandelt, öffnet, wenn es uns gelingt, die Präsenz, das Gewahrsein aufrecht zu erhalten. Wie sich mit einem Male Dimensionen unseres Bewusstseins öffnen, die wir so noch nicht gekannt haben.
Da öffnen sich Räume, wo uns buchstäblich etwas einfällt, wo Klarheit entsteht und dann auch Wachheit.
Nach außen hin hat es den Anschein, als schliefe jemand und wäre nicht präsent, nach innen kann es aber ganz anders sein. 
Probiert es aus und lasst uns im Dokusan darüber reden und miteinander drauf schauen.

Und damit noch zu einem anderen Thema, dem manche von uns auch auf dem Sesshin begegnen und es auch von der Meditation zu Hause kennen: dem Schmerz.

Vielleicht sollten wir uns bei diesem Thema als erstes einmal bewusst machen, dass in der Regel die Schmerzen, die bei der Meditation auftreten – auch wenn sie furchtbar und zermürbend sein können – nichts mit einer Krankheit oder eine Bedrohung an Leib und Leben zu tun haben, wie zum Beispiel bei einem krebserkrankten Organ.
Wenn ich es vielleicht mal etwas locker formulieren darf, die „Sitz-Schmerzen“, von denen ich hier rede, haben etwas mit der Zwiesprache von Körper und Seele zu tun.

Rinpoche: „Gut am Schmerz ist, dass er um Aufmerksamkeit schreit.“
Ihr kennt es alle, das fernöstliche Modell vom Schmerz besagt: Schmerz ist Blockade. 
Und eben nicht nur in unserem Körper, sondern auch in unserer Seele, unserem Geist.
Der Rinpoche schreibt dazu:
Wenn wir den Geist auf den Schmerz legen, wissen wir, wo der Geist ist. Der Trick ist, des Geistes gewahr zu bleiben. Wenn ein Schmerz nach Aufmerksamkeit verlangt, reagieren wir meistens so, dass wir ihn loswerden wollen. Der Schmerz wird zu einem Objekt außerhalb des Geistes, das vertrieben, hinausgeworfen werden muss. Das ist der seltsame, kontra-intuitive Aspekt des Schmerzes: Wenn wir mit Widerstand auf den Schmerz reagieren, wird er nicht weniger. Vielmehr kommt zum Schmerz noch Leiden hinzu. Das Schmerzempfinden entsteht im Körper. Die negative Reaktion auf Schmerz entsteht im Geist des fixierten Selbst und verwandelt körperlichen Schmerz zu einem Feind. So entsteht das Leiden. Wenn wir versuchen, den Schmerz loszuwerden, spielen wir uns gegen uns selbst aus und werden zu privaten Kriegsgebieten: kein Umfeld, das der Heilung besonders förderlich ist. Bei vielen Menschen haftet sich Selbstmitleid wie Klebstoff an die Krankheit, und die Stimme des Egos fragt: Warum ich? Doch diese Stimme sitzt nicht beim Schmerz im Körper, sondern beim Geist, der sich mit dem Schmerz identifiziert. 
[…]
Schmerzmeditation fällt unter eine Kategorie, die reversierte Meditationen heißt. Reversiert bedeutet, dass wir vorsätzlich alles Unerwünschte und Unwillkommene mit offenen Armen aufnehmen. (Yongey Mingyur Rinpoche, Auf dem Weg, S. 265 ff.) 

Ich begann mit dem Schmerz zu meditieren, indem ich meinen Geist auf die Empfindung der Magenkrämpfe richtete. Ihn dann dort ruhen ließ. Verweile einfach bei der Schmerzempfindung. Nicht hinnehmen, nicht zurückweisen. Nur fühlen. Erforsche die Empfindung. Lass dich nicht zu einer Geschichte über die Krämpfe hinreißen, fühle sie nur. Nach ein paar Minuten begann ich nachzuforschen: Welche Qualität hat dieses Gefühl? Wo sitzt es? Ich bewegte meinen Geist von der Oberfläche in meinen Magen, in den Schmerz selbst. Dann fragte ich: Wer hat diesen Schmerz? 
Eine meiner hochverehrten Rollen? 
Das sind nur Begriffe. 
Der Schmerz ist ein Begriff.
Ein Krampf ist ein Begriff.
Verweile im Gewahrsein jenseits von Begriffen, 
[…]
Krämpfe, Magen, Schmerz sind alles intensive Formen des Gewahrseins. 
Verweile beim Gewahrsein und werde größer als der Schmerz.
[…]
Lass ihn kommen. Lass ihn gehen. 
[…]
Wenn du mit deinem Schmerz eins wirst, gibt es niemanden, dem wehgetan wird.
[…]
…denn Schmerz ist nur eine Benennung. Spüre die Empfindung. Jenseits von Begriffen…  
[…]
Bei jeder Praxis geht es darum, aufzuwachen und sich einer universellen Realität bewusst zu werden…(Yongey Mingyur Rinpoche, Auf dem Weg, S. 268 ff.) 

Wir können den Schmerz nicht direkt verändern, aber wir können unsere Beziehung zu ihm verändern, und das kann das Leiden mildern. Ein Jahr zuvor hatte mich ein Freund in meinen im ersten Stockwerk gelegenen Räumen in Bodh Gaya besucht. Ich war überrascht, als er mit Krücken auftauchte. „Was ist passiert?“, fragte ich. Er hatte eine zermürbende Scheidung hinter sich, und ich wusste bereits, dass seine Frau ihn aus dem Haus geworfen hatte. Er erzählte, dass er versucht hatte, über einen Baum in ein offenes Fenster im ersten Stock ins Haus zu klettern. Aber er war ausgerutscht und hatte sich ein Bein gebrochen. Dann begann er zu lachen. Dieser Schmerz, sagte er zu mir, ist so wunderbar. Ich liebe diesen Schmerz. Er zieht den ganzen Kummer aus meinem Kopf heraus und stopft ihn in einen kleinen Bereich hinein, wie wenn ich meine Fuß in einen Socken stecke. Ich weiß, wo der Schmerz ist und wie ich damit umgehen muss. Jetzt kann ich wieder klar denken. (Yongey Mingyur Rinpoche, Auf dem Weg, S. 270 ff.) 

Ihr wisst und kennt es, mir geht es nicht darum, den Schmerz zu glorifizieren. Aber es gibt auch ein eigenartiges Mysterium von dem Schmerz, das Meister Ekkehard einmal so formuliert hat: “Der Schmerz ist das schnellste Reittier auf dem mystischen Weg“.
Dabei ist klar, der Schmerz ist nicht das Ziel, sondern er kann uns, genau wie die Müdigkeit weiterbringen, in den offenen Horizont unseres Seins. 
Johannes Tauler hat es einmal so formuliert: 

Gelassenheit
Johannes Tauler

Hätten alle Teufel
und alle Menschen sich verschworen,
und würde der Mensch alles erleiden
und sich lassen
und diese Finsternis und Bedrängnis aushalten,
wie es ihn auch schmerzen und bedrücken mag,
und würde er keine Ausflüchte suchen, so oder so,
darin nähme er mehr zu und käme weiter
als in all den äußeren Übungen,
die die ganze Welt zusammen tun könnte.
Bleibe nur bei dir selber
und lauf nicht nach außen
und halte dein Leiden aus
und suche nicht etwas anderes! -
So laufen etliche Menschen,
wenn sie in dieser inwendigen Armut stehen,
um immer etwas anderes zu suchen
und dadurch der Bedrängnis zu entgehen.
Das ist gar schädlich.
Oder sie gehen, um zu klagen
oder um Lehrmeister zu fragen,
und geraten noch mehr in die Irre.

Da kommen einige und reden von so grossen,
geistigen, überwesentlichen, überformlichen Dingen,
gerade als wären sie über die Himmel geflogen.
Und dabei kamen sie noch nie einen Schritt aus sich selber
durch die Erkenntnis ihres eigenen Nichts.

Sie mögen wohl zu vernünftiger Wahrheit gelangt sein;
aber zur lebendigen Wahrheit,
wo die Wahrheit Wahrheit ist,
dazu gelangt niemand,
als auf diesem Weg des eigenen Nichts.[…]


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