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Warum üben wir - was üben wir?

Matthias Uhlich • 17. November 2021


Von euch ist ein Thema für ein Teisho genannt worden, das ich sehr interessant finde und über das ich gerne ein paar Gedanken sagen möchte: 
„Warum wir üben - was üben nicht ist.“

Allein die Frage zeigt schon einen sehr interessanten Blickwinkel auf unsere Meditationspraxis.

Bei meinen Einführungskursen in die Zen-Meditation mache ich zu Beginn immer eine kleine Eingangsrunde mit der Frage, warum Menschen sich für diesen Kurs angemeldet haben?
Die Antworten sind sehr unterschiedlich - und dennoch bei aller Verschiedenheit ist ein Tenor da, der heisst, ich will zur Ruhe kommen, ich will entspannen, mein Arzt oder Therapeut hat mir gesagt, ich müsste/sollte meditieren, um aus meinem Stress raus zu kommen.
Da sind Menschen, die zur Ruhe kommen wollen, ausspannen, entspannen, Raum für sich suchen und finden wollen.
Beim Begriff Meditation assoziieren wir natürlich, Relaxtheit, mal nichts machen und rundum nur noch entspannen, ausruhen vom Alltag, vom Stress, der uns alle in je eigener Weise fordert und im Griff hat.
Wir möchten gerne raus aus einer Welt der Unruhe und des Getriebenseins und diese uns unbarmherzig fordernde Welt hinter uns lassen.

Manchmal ist diese Vorstellung auch mit einem Kämmerlein verbunden, in dem ich ganz für mich, abgeschirmt von der Welt, dem Alltag zur tiefen Ruhe und Glückseligkeit finden kann.
Ich weiss nicht, ob es diesen Ort des Rückzuges und des seligen Glückes bei sich zu sein, jemals gab oder geben kann - ausser vielleicht in den Vorstellungen und Wünschen von gestressten Menschen.

Ihr alle kennt es und wisst aus eigener Erfahrung davon, dass Zen-Meditation keine Wellness Veranstaltung à la Fernost ist.
Was wir praktizieren ist ein Weg, den Menschen im Osten wie im Westen als einen mystischen, spirituellen Weg gegangen sind. Und wenn ich vom Praktizieren spreche, dann impliziert das ganz automatisch auch, was zu jeder Praxis gehört, das Üben.
Die Übung ist wohl die Grundlage einer jeden spirituellen Praxis. 
Das Üben allein für mich zu Hause an meinem Meditationsplatz, in der Gruppe zusammen mit anderen - und vor allem im Alltag mit und bei den Menschen, die von Spiritualität, von Mystik keine Ahnung haben und auch nichts davon wissen wollen. Auf diese Übungen muss ich mich immer neu einlassen.

Der Alltag - im Zen oft mit dem Begriff „Marktplatz“ beschrieben und der Rückzug auf meinen Meditationsplatz sind keine Gegensätze, sondern beide gehören zusammen. 
Beide sind Übungsplätze, die für unser Leben wichtig sind und die sich gegenseitig durchdringen. Und jeder Bereich kann auf diese Weise den anderen hilfreich befruchten.

Und damit ist deutlich, die Ruhe und Gelassenheit, das Bei-mir-sein ist nicht nur eine Übung im Rückzug, sondern ebenso wichtig auch im alltäglichen Leben. 
Im Alltag werden wir immer wieder schnell von all dem, was so am „Wegesrand“ liegt und einen gewissen Aufforderungscharakter hat, von den Versuchen bei uns zu bleiben abgezogen.
Wir alle kennen es wohl ganz gut, dass wir manche Dinge gleichzeitig tun, telefonieren und nebenbei kleine Handgriffe erledigen; manches, was wir bei einer Tätigkeit wahrnehmen auch gleich noch mit machen, weil es sich gerade anbietet usf.

Und so ist unsere Übung im Alltag, einfach einmal ganz ruhig bei mir und dem zu bleiben, was ich gerade tue: 
Auf meinem Meditationsplatz, in der Stille dieses ruhige bei mir sein zu üben.
Und dann diese Übung mit in den Tag zu nehmen in jeden Handgriff, in die Begegnungen mit Menschen, in all dessen, was am Tag zu erledigen ist.

Dieses ruhig bei mir bleiben übe ich jeden Tag. Und da merke ich schon, wie schwierig es ist, mich nicht immer wieder von den vielen verschiedenen Gedanken und Eindrücken, Erinnerungen, Bildern, Befürchtungen …. abziehen zu lassen, sondern einfach nur ganz ruhig bei mir und dem Augenblick, den Atemzug jetzt, zu bleiben oder eben auch bei dem zu sein, was gerade an Lebendigkeit mir begegnet.

Dieses JETZT, dieser Augenblick ist in allen mystischen Traditionen des Ostens und des Westens wichtig.
In der westlichen Tradition sprechen die Mystiker, vor allem Meister Eckehart vom „NU“.
In diesem Augenblick, in diesem „NU“ gibt es keine Zeit mehr, reines, einfaches Dasein geschieht dann.

Menschen haben es immer wieder erfahren, dass immer dann, wenn es ihnen gelingt, in den Augenblick zu kommen, dass dann die verschiedenen Zeitdimensionen ihre bannende, bindende Kraft verlieren können. Angst, Sorge, Erwartungen, Berechnungen, wie es wohl werden wird, werden könnte, die uns manchmal so sehr in die Enge treiben, verlieren ihre lähmende Kraft und wir finden uns mit einem Male in einem Jetzt, dessen lösende Kraft uns zufliesst.

Es gibt die schön Zen-Geschichte von Meister Ikkyu, den ein Schüler nach dem Wichtigsten des Zen Weges fragte und wohl vom Meister kluge spirituelle Weisungen und Erklärungen erwartete. Meister Ikkyu aber nahm seinen Pinsel und schrieb das Wort: AUFMERKSAMKEIT
Ist das alles?, fragte der Mann. Kannst du nicht noch etwas mehr dazu sagen?
Daraufhin nahm der Meister wieder seinen Pinsel und schrieb wieder das Wort AUFMERKSAMKEIT.AUFMERKSAMKEIT.
Der Mann wandte sich enttäuscht ab und sagte, in dem was du da schreibst kann ich weder Freiheit noch Tiefe erkennen.
Da nahm Ikkyu noch einmal seinen Pinsel und schrieb dreimal hintereinander: AUFMERKSAMKEIT.AUFMERKSAMKEIT.AUFMERKSAMKEIT.
Ärgerlich fragte der Mann, was soll dieses Wort AUFMERKSAMKEIT denn bedeuten?
Ikkyu antwortete AUFMERKSAMKEIT bedeutet AUFMERKSAMKEIT.

Der grosse vietnamesische Zen Meister Thich Nhat Hanh hat mit und bei seinen Schülern die ACHTSAMKEIT geübt. Achtsamkeit und Aufmerksamkeit sind wohl synonyme Begriffe für die Übung, um die es geht. Bei Thich Nhat Hanh spielt neben der Zen-Übung auf dem Sitzkissen die Gehmeditation eine wichtige Rolle aber auch das alltägliche Tun, die einfachen Arbeiten im Haus und im Garten sind bei ihm wichtige Orte des Übens. Die meditative Übung und der Alltag gehören für ihn zusammen, so lehrt er das Zen. Und so sagt er z.B. “Es gibt zwei Arten, das Geschirr abzuwaschen: Die erste ist, das Geschirr zu spülen, um sauberes Geschirr zu haben, und die zweite ist, das Geschirr zu spülen, um das Geschirr zu spülen.“

Das ist es auch, was Meister Eckehart mit dem „NU“ oder in einer anderen Redewendung, die er immer wieder gebraucht, „sundern warumbe“, ohne warum zu sein, meint.
Von Theresa von Avila wird berichtet, dass sie die Nonnen, die sich der spirituellen Übung der Levitation hingaben aus der Kirche holte und sie in die Küche schickte:
„Auf ihr faulen Weiber geht an die Töpfe und Pfannen!“

In einem Text, der Theresa zugeschrieben wird, wird das eben Beschriebene noch einmal konkretisiert:
Herr der Töpfe und Pfannen,
ich habe keine Zeit, eine Heilige zu sein,
Und dir zum Wohlgefallen in der Nacht zu wachen.
Auch kann ich nicht meditieren in der Morgendämmerung
Und im stürmischen Horizont. 

Mach´ mich zu einer Heiligen,
Indem ich Mahlzeiten zubereite und Teller wasche.
Nimm an meine rauen Hände,
weil sie für dich rau geworden sind. 

Kannst du meinen Spüllappen
als einen Geigenbogen gelten lassen,
der himmlische Harmonie hervorbringt auf einer Pfanne?
Sie ist so schwer zu reinigen und, ach, so abscheulich.
Hörst du, lieber Herr, die Musik, die ich meine?

Die Stunde des Gebetes ist vorbei,
bis ich mein Geschirr vom Abendessen gespült habe,
und dann bin ich sehr müde.
Wenn mein Herz noch am Morgen bei der Arbeit gesungen hat,
ist es am Abend schon längst vor mir zu Bett gegangen.

Herr der Töpfe und Pfannen, bitte,
darf ich dir, statt gewonnener Seelen,
die Ermüdung anbieten, die mich ankommt
beim Anblick von Kaffeesatz und angebrannten Kochtöpfen.
Erinnere mich an alles, was ich leicht vergesse,
nicht nur um Treppen zu sparen,
sondern dass mein vollendet gedeckter Tisch
ein Gebet werde.

Im Zen haben wir das gleiche so beschrieben:

Alltag ist der Weg
(Mumonkan Nr. 19)
Jôshû fragte Nansen in allem Ernst: „Was ist der WEG?" 
Nansen antwortete: „Der alltägliche Geist ist der WEG." 
Jôshû fragte: „Soll ich mich selbst darauf ausrichten oder nicht?" 
Nansen sagte: „Wenn du versuchst, dich ihm zuzuwenden, wendest du dich von ihm ab." 
Jôshû fragte: „Wenn ich nicht versuche, mich ihm zuzuwenden, wie kann ich wissen, daß es der WEG ist?" 
Nansen antwortete: „Der WEG hat nichts zu tun mit Wissen oder Nicht-Wissen. Wissen ist Illusion. Nicht-Wissen ist ohne Bewusstsein. Wenn du den zweifelsfreien, wahren WEG wirklich erreicht hast, wirst du ihn erfahren als grenzenlos und leer wie den Weltraum. Wie kann man darüber sprechen auf einer Ebene von Richtig oder Falsch?"
Bei diesen Worten war Jôshû plötzlich erleuchtet.

Es geht im Westen wie im Osten, um die einfache Aufmerksamkeit in all den oft so banalen Dingen, die wir immer wieder zu verrichten haben. Wie einfach es auch gerade sein mag, was ich tue, vom Spülen über das Teetrinken, das Gehen, das Gespräch mit den anderen …… all das ist unsere Übung und sonst nichts.

Thich Nhat Hanh hat dazu geschrieben:
„Wenn du von deinem Kummer fortgetragen wirst, von deiner Angst, deiner Wut, dann kannst du auch nicht wirklich dasein für die Menschen und die Dinge, die du liebst.“

Das ist ein Aspekt. Einen anderen habe ich vorhin schon angedeutet, nämlich, dass aus dem Erleben der Gegenwärtigkeit eine grosse Erfahrung von Glück und Glückseligkeit entstehen kann.
Marguerite Porete beschreibt diese Erfahrung so:

Solch eine Seele schwimmt im Meer der Liebe,
das ist im Meer des Entzückens,
das von der Gottheit herabströmt.
Sie fühlt keine Freude,
denn sie selbst ist Freude
und schwimmt und fließt in der Freude,
ohne sie zu empfinden.
Denn sie bewohnt die Freude,
und Freude bewohnt sie.

Ganz in den Augenblick, ins Jetzt zu kommen, schafft gerade das Erleben von Freude und grosser, tiefer Verbundenheit mit allem, was ist und entspringt allein aus dieser Präsenz.

Auch hier haben wir es wieder, es ist keine besondere Freude, die an irgendetwas gebunden ist, sondern es ist die tiefe Freude an der Freude, um es mit Meister Eckehart zu sagen, „sundern warumbe“, die erfahren wird. Die aber auf der anderen Seite ganz tief in und mit unserem Leben, unserem Alltag verbunden ist - und die auch jenseits von irgendwelchen Wahrheiten oder Richtigkeiten liegt.

Im Chassidismus wird dieses sich freuen am Leben auch immer wieder thematisiert. Eine kleine Geschichte macht es deutlich, wie voraussetzungslos die Freude ist, sein kann:

Der Seher von Lublin kannte einen großen Sünder, mit dem er sich immer wieder gern und lang unterhielt. Als die Leute der Gemeinde daran Anstoß nahmen und vorzubringen wagten: »Rabbi, wie duldet Ihr solch einen Menschen in Eurer Gegenwart?« bekamen sie zur Antwort: »Ich weiß, was ihr wißt. Aber was kann ich tun? Ich liebe die Freude und hasse die Trübsal. Und dieser Mann ist ein so großer Sünder; sogar unmittelbar nach der sündigen Handlung, wo doch sonst alle, und sei es auch nur ein Weilchen, zu bereuen pflegen, sei es auch nur, um sich alsbald wieder ihrer Torheit zu ergeben, widersteht er der Schwermut und bereut nicht. Und die Freude zieht mich an.«

Eine andere kleine Geschichte aus dem Chassidismus, also der besonderen Frömmigkeitsbewegung des östlichen Judentums, zeigt, wie sehr auch hier die Freude mit dem Alltag, mit der Erfahrung des Augenblicks verbunden ist:

Ein Schüler bittet seinen Rabbi, zu einem Zaddik in einer anderen Stadt fahren zu dürfen, um von ihm Thora zu lernen. Er versucht ihn zu finden und wird schließlich an einen Schankwirt in einer Kneipe verwiesen. Der Zaddik steht - und hier ist die Geschichte durchaus zenbuddhistisch - hinter der Theke und wäscht Gläser aus. Er bittet den Jungen, ihm zu helfen, Tag für Tag, bis der Schüler am Freitagabend in sein Dorf zurückfährt. Er habe gar nichts gelernt, nur Gläser ausgewaschen, erzählt er seinem Rabbi. Der sagt ihm: »Ja weißt du denn nicht, wenn er die Gläser reinigt, reinigt er die Welt und macht so die Funken frei, die in der beschmutzten Materie sind, und führt sie in die Weltseele zurück.«

Mit dieser Geschichte möchte ich nun noch einmal zu unserer Ausgangsfrage zurück kehren: „Warum üben wir - und was üben nicht ist.“
Ich denke, dass mit dem bisher Gesagten wir eigentlich auf die Frage, was üben nicht ist gar nicht antworten können, denn alles, was uns begegnet, kann zur Übung werden und all jene Menschen, die bereit sind sich auf den Augenblick, auf das Jetzt einzulassen sind Übende, ob Schankwirte, Gaukler, reuelose Sünder; ob im Haushalt, auf dem Felde und im Garten oder im Kontakt mit den Menschen, die Mystiker aller Religionen kennen keinen Unterschied zwischen Heiligen und Sündern, zwischen Alltag und Heiligen Räumen. Sie wissen, dass es nur Menschen gibt, die in je ihrer Weise sich ins Leben ziehen lassen.
Und genau um diese Übung geht es.

Dazu eine letzte kleine Geschichte:
Eine französische Marienlegende erzählt von einem Gaukler, der sein unstetes Leben aufgibt und ins Kloster geht. Aber das Leben der Mönche bleibt ihm fremd, er weiß weder ein Gebet zu sprechen noch zu singen. Er klagt sein Leid der Jungfrau Maria, und sie fordert ihn auf Gott mit dem zu dienen, was er könne: Tanzen und Springen! Von da an verpaßt er alle Chorgebete, um in dieser Zeit zu tanzen. Er wird zum Abt gerufen und glaubt, verwiesen zu werden, aber der Abt sagt nur: »In deinem Tanz hast du Gott mit Leib und Seele geehrt. Uns aber möge er alle wohlfeilen Worte verzeihen, die über die Lippen kommen, ohne daß unser Herz sie sendet.«

Genau um dieses Einswerden geht es auch in unserer Übung.
Wir üben nicht “für” oder “um zu”, sondern dass unser Leben sich von innen her wandelt. Oft in einem langen und manchmal für den Einzelnen in einem kaum wahrnehmbaren Prozess. Aber mehr und mehr werden Geist und Körper und Leben zu einem Ausdruck des Dasein, das ganz selbstverständlich leben, fliessen kann.
Und genau das üben wir, im Grunde, in allen Lagen unseres Tages.
Und da ist der Tanz ein schönes Bild, eine gute Metapher für alles Lebendige.
In der fernöstlichen Tradition gibt es keine Geschichte von der Entstehung der Welt, so wie wir sie aus der Bibel kennen, sondern da wird berichtet, dass Gott Shiwa die Welt tanzt.
Im Tanz werden Körper und Seele zu einer Einheit.
Tanz ist Ausdruck des reinen Seins, der Freude oder auch des Leides, der Trauer. Und gerade im Tanz finden Freude und Leid ihre konkrete Gestalt, um die Erfahrung von Glück und Freude, aber auch, um Leid und Schmerz einen Ausdruck zu geben, um sie dann auch zu überwinden, ins Leben zu integrieren.
Der Tanz hat kein Ziel, ausser eben zu tanzen und da zu sein, sich in die Bewegung ziehen zu lassen, eins zu werden.
Wenn wir tanzen, tanzen wir nicht, um fertig zu werden, sondern wir tanzen um des Tanzes willen. So wird der Tanz Ausdruck der Freude, der Lebendigkeit und des Lebens schlechthin.

Symphonie und Tanz
Erfahrungsbericht
Du bist der Schöpfer der Symphonie und auch ihr Klang.
Ich eine unverwechselbare Note, die erklingt und verklingt.
Du bist der Tänzer und auch der Tanz.
Ich dieser wirbelnde Tanzschritt im zeitlosen Jetzt.
Du bist das Kommen und Gehen.
Das Geborenwerden und Sterben.
Warum Angst haben?
Du tanzt und singst.
Wirst geboren und stirbst.
Wer sagt da Ich?

Teisho 10/21 PA



Von euch ist ein Thema für ein Teisho genannt worden, das ich sehr interessant finde und über das ich gerne ein paar Gedanken sagen möchte: 
„Warum wir üben - was üben nicht ist.“

Allein die Frage zeigt schon einen sehr interessanten Blickwinkel auf unsere Meditationspraxis.

Bei meinen Einführungskursen in die Zen-Meditation mache ich zu Beginn immer eine kleine Eingangsrunde mit der Frage, warum Menschen sich für diesen Kurs angemeldet haben?
Die Antworten sind sehr unterschiedlich - und dennoch bei aller Verschiedenheit ist ein Tenor da, der heisst, ich will zur Ruhe kommen, ich will entspannen, mein Arzt oder Therapeut hat mir gesagt, ich müsste/sollte meditieren, um aus meinem Stress raus zu kommen.
Da sind Menschen, die zur Ruhe kommen wollen, ausspannen, entspannen, Raum für sich suchen und finden wollen.
Beim Begriff Meditation assoziieren wir natürlich, Relaxtheit, mal nichts machen und rundum nur noch entspannen, ausruhen vom Alltag, vom Stress, der uns alle in je eigener Weise fordert und im Griff hat.
Wir möchten gerne raus aus einer Welt der Unruhe und des Getriebenseins und diese uns unbarmherzig fordernde Welt hinter uns lassen.

Manchmal ist diese Vorstellung auch mit einem Kämmerlein verbunden, in dem ich ganz für mich, abgeschirmt von der Welt, dem Alltag zur tiefen Ruhe und Glückseligkeit finden kann.
Ich weiss nicht, ob es diesen Ort des Rückzuges und des seligen Glückes bei sich zu sein, jemals gab oder geben kann - ausser vielleicht in den Vorstellungen und Wünschen von gestressten Menschen.

Ihr alle kennt es und wisst aus eigener Erfahrung davon, dass Zen-Meditation keine Wellness Veranstaltung à la Fernost ist.
Was wir praktizieren ist ein Weg, den Menschen im Osten wie im Westen als einen mystischen, spirituellen Weg gegangen sind. Und wenn ich vom Praktizieren spreche, dann impliziert das ganz automatisch auch, was zu jeder Praxis gehört, das Üben.
Die Übung ist wohl die Grundlage einer jeden spirituellen Praxis. 
Das Üben allein für mich zu Hause an meinem Meditationsplatz, in der Gruppe zusammen mit anderen - und vor allem im Alltag mit und bei den Menschen, die von Spiritualität, von Mystik keine Ahnung haben und auch nichts davon wissen wollen. Auf diese Übungen muss ich mich immer neu einlassen.

Der Alltag - im Zen oft mit dem Begriff „Marktplatz“ beschrieben und der Rückzug auf meinen Meditationsplatz sind keine Gegensätze, sondern beide gehören zusammen. 
Beide sind Übungsplätze, die für unser Leben wichtig sind und die sich gegenseitig durchdringen. Und jeder Bereich kann auf diese Weise den anderen hilfreich befruchten.

Und damit ist deutlich, die Ruhe und Gelassenheit, das Bei-mir-sein ist nicht nur eine Übung im Rückzug, sondern ebenso wichtig auch im alltäglichen Leben. 
Im Alltag werden wir immer wieder schnell von all dem, was so am „Wegesrand“ liegt und einen gewissen Aufforderungscharakter hat, von den Versuchen bei uns zu bleiben abgezogen.
Wir alle kennen es wohl ganz gut, dass wir manche Dinge gleichzeitig tun, telefonieren und nebenbei kleine Handgriffe erledigen; manches, was wir bei einer Tätigkeit wahrnehmen auch gleich noch mit machen, weil es sich gerade anbietet usf.

Und so ist unsere Übung im Alltag, einfach einmal ganz ruhig bei mir und dem zu bleiben, was ich gerade tue: 
Auf meinem Meditationsplatz, in der Stille dieses ruhige bei mir sein zu üben.
Und dann diese Übung mit in den Tag zu nehmen in jeden Handgriff, in die Begegnungen mit Menschen, in all dessen, was am Tag zu erledigen ist.

Dieses ruhig bei mir bleiben übe ich jeden Tag. Und da merke ich schon, wie schwierig es ist, mich nicht immer wieder von den vielen verschiedenen Gedanken und Eindrücken, Erinnerungen, Bildern, Befürchtungen …. abziehen zu lassen, sondern einfach nur ganz ruhig bei mir und dem Augenblick, den Atemzug jetzt, zu bleiben oder eben auch bei dem zu sein, was gerade an Lebendigkeit mir begegnet.

Dieses JETZT, dieser Augenblick ist in allen mystischen Traditionen des Ostens und des Westens wichtig.
In der westlichen Tradition sprechen die Mystiker, vor allem Meister Eckehart vom „NU“.
In diesem Augenblick, in diesem „NU“ gibt es keine Zeit mehr, reines, einfaches Dasein geschieht dann.

Menschen haben es immer wieder erfahren, dass immer dann, wenn es ihnen gelingt, in den Augenblick zu kommen, dass dann die verschiedenen Zeitdimensionen ihre bannende, bindende Kraft verlieren können. Angst, Sorge, Erwartungen, Berechnungen, wie es wohl werden wird, werden könnte, die uns manchmal so sehr in die Enge treiben, verlieren ihre lähmende Kraft und wir finden uns mit einem Male in einem Jetzt, dessen lösende Kraft uns zufliesst.

Es gibt die schön Zen-Geschichte von Meister Ikkyu, den ein Schüler nach dem Wichtigsten des Zen Weges fragte und wohl vom Meister kluge spirituelle Weisungen und Erklärungen erwartete. Meister Ikkyu aber nahm seinen Pinsel und schrieb das Wort: AUFMERKSAMKEIT
Ist das alles?, fragte der Mann. Kannst du nicht noch etwas mehr dazu sagen?
Daraufhin nahm der Meister wieder seinen Pinsel und schrieb wieder das Wort AUFMERKSAMKEIT.AUFMERKSAMKEIT.
Der Mann wandte sich enttäuscht ab und sagte, in dem was du da schreibst kann ich weder Freiheit noch Tiefe erkennen.
Da nahm Ikkyu noch einmal seinen Pinsel und schrieb dreimal hintereinander: AUFMERKSAMKEIT.AUFMERKSAMKEIT.AUFMERKSAMKEIT.
Ärgerlich fragte der Mann, was soll dieses Wort AUFMERKSAMKEIT denn bedeuten?
Ikkyu antwortete AUFMERKSAMKEIT bedeutet AUFMERKSAMKEIT.

Der grosse vietnamesische Zen Meister Thich Nhat Hanh hat mit und bei seinen Schülern die ACHTSAMKEIT geübt. Achtsamkeit und Aufmerksamkeit sind wohl synonyme Begriffe für die Übung, um die es geht. Bei Thich Nhat Hanh spielt neben der Zen-Übung auf dem Sitzkissen die Gehmeditation eine wichtige Rolle aber auch das alltägliche Tun, die einfachen Arbeiten im Haus und im Garten sind bei ihm wichtige Orte des Übens. Die meditative Übung und der Alltag gehören für ihn zusammen, so lehrt er das Zen. Und so sagt er z.B. “Es gibt zwei Arten, das Geschirr abzuwaschen: Die erste ist, das Geschirr zu spülen, um sauberes Geschirr zu haben, und die zweite ist, das Geschirr zu spülen, um das Geschirr zu spülen.“

Das ist es auch, was Meister Eckehart mit dem „NU“ oder in einer anderen Redewendung, die er immer wieder gebraucht, „sundern warumbe“, ohne warum zu sein, meint.
Von Theresa von Avila wird berichtet, dass sie die Nonnen, die sich der spirituellen Übung der Levitation hingaben aus der Kirche holte und sie in die Küche schickte:
„Auf ihr faulen Weiber geht an die Töpfe und Pfannen!“

In einem Text, der Theresa zugeschrieben wird, wird das eben Beschriebene noch einmal konkretisiert:
Herr der Töpfe und Pfannen,
ich habe keine Zeit, eine Heilige zu sein,
Und dir zum Wohlgefallen in der Nacht zu wachen.
Auch kann ich nicht meditieren in der Morgendämmerung
Und im stürmischen Horizont. 

Mach´ mich zu einer Heiligen,
Indem ich Mahlzeiten zubereite und Teller wasche.
Nimm an meine rauen Hände,
weil sie für dich rau geworden sind. 

Kannst du meinen Spüllappen
als einen Geigenbogen gelten lassen,
der himmlische Harmonie hervorbringt auf einer Pfanne?
Sie ist so schwer zu reinigen und, ach, so abscheulich.
Hörst du, lieber Herr, die Musik, die ich meine?

Die Stunde des Gebetes ist vorbei,
bis ich mein Geschirr vom Abendessen gespült habe,
und dann bin ich sehr müde.
Wenn mein Herz noch am Morgen bei der Arbeit gesungen hat,
ist es am Abend schon längst vor mir zu Bett gegangen.

Herr der Töpfe und Pfannen, bitte,
darf ich dir, statt gewonnener Seelen,
die Ermüdung anbieten, die mich ankommt
beim Anblick von Kaffeesatz und angebrannten Kochtöpfen.
Erinnere mich an alles, was ich leicht vergesse,
nicht nur um Treppen zu sparen,
sondern dass mein vollendet gedeckter Tisch
ein Gebet werde.

Im Zen haben wir das gleiche so beschrieben:

Alltag ist der Weg
(Mumonkan Nr. 19)
Jôshû fragte Nansen in allem Ernst: „Was ist der WEG?" 
Nansen antwortete: „Der alltägliche Geist ist der WEG." 
Jôshû fragte: „Soll ich mich selbst darauf ausrichten oder nicht?" 
Nansen sagte: „Wenn du versuchst, dich ihm zuzuwenden, wendest du dich von ihm ab." 
Jôshû fragte: „Wenn ich nicht versuche, mich ihm zuzuwenden, wie kann ich wissen, daß es der WEG ist?" 
Nansen antwortete: „Der WEG hat nichts zu tun mit Wissen oder Nicht-Wissen. Wissen ist Illusion. Nicht-Wissen ist ohne Bewusstsein. Wenn du den zweifelsfreien, wahren WEG wirklich erreicht hast, wirst du ihn erfahren als grenzenlos und leer wie den Weltraum. Wie kann man darüber sprechen auf einer Ebene von Richtig oder Falsch?"
Bei diesen Worten war Jôshû plötzlich erleuchtet.

Es geht im Westen wie im Osten, um die einfache Aufmerksamkeit in all den oft so banalen Dingen, die wir immer wieder zu verrichten haben. Wie einfach es auch gerade sein mag, was ich tue, vom Spülen über das Teetrinken, das Gehen, das Gespräch mit den anderen …… all das ist unsere Übung und sonst nichts.

Thich Nhat Hanh hat dazu geschrieben:
„Wenn du von deinem Kummer fortgetragen wirst, von deiner Angst, deiner Wut, dann kannst du auch nicht wirklich dasein für die Menschen und die Dinge, die du liebst.“

Das ist ein Aspekt. Einen anderen habe ich vorhin schon angedeutet, nämlich, dass aus dem Erleben der Gegenwärtigkeit eine grosse Erfahrung von Glück und Glückseligkeit entstehen kann.
Marguerite Porete beschreibt diese Erfahrung so:

Solch eine Seele schwimmt im Meer der Liebe,
das ist im Meer des Entzückens,
das von der Gottheit herabströmt.
Sie fühlt keine Freude,
denn sie selbst ist Freude
und schwimmt und fließt in der Freude,
ohne sie zu empfinden.
Denn sie bewohnt die Freude,
und Freude bewohnt sie.

Ganz in den Augenblick, ins Jetzt zu kommen, schafft gerade das Erleben von Freude und grosser, tiefer Verbundenheit mit allem, was ist und entspringt allein aus dieser Präsenz.

Auch hier haben wir es wieder, es ist keine besondere Freude, die an irgendetwas gebunden ist, sondern es ist die tiefe Freude an der Freude, um es mit Meister Eckehart zu sagen, „sundern warumbe“, die erfahren wird. Die aber auf der anderen Seite ganz tief in und mit unserem Leben, unserem Alltag verbunden ist - und die auch jenseits von irgendwelchen Wahrheiten oder Richtigkeiten liegt.

Im Chassidismus wird dieses sich freuen am Leben auch immer wieder thematisiert. Eine kleine Geschichte macht es deutlich, wie voraussetzungslos die Freude ist, sein kann:

Der Seher von Lublin kannte einen großen Sünder, mit dem er sich immer wieder gern und lang unterhielt. Als die Leute der Gemeinde daran Anstoß nahmen und vorzubringen wagten: »Rabbi, wie duldet Ihr solch einen Menschen in Eurer Gegenwart?« bekamen sie zur Antwort: »Ich weiß, was ihr wißt. Aber was kann ich tun? Ich liebe die Freude und hasse die Trübsal. Und dieser Mann ist ein so großer Sünder; sogar unmittelbar nach der sündigen Handlung, wo doch sonst alle, und sei es auch nur ein Weilchen, zu bereuen pflegen, sei es auch nur, um sich alsbald wieder ihrer Torheit zu ergeben, widersteht er der Schwermut und bereut nicht. Und die Freude zieht mich an.«

Eine andere kleine Geschichte aus dem Chassidismus, also der besonderen Frömmigkeitsbewegung des östlichen Judentums, zeigt, wie sehr auch hier die Freude mit dem Alltag, mit der Erfahrung des Augenblicks verbunden ist:

Ein Schüler bittet seinen Rabbi, zu einem Zaddik in einer anderen Stadt fahren zu dürfen, um von ihm Thora zu lernen. Er versucht ihn zu finden und wird schließlich an einen Schankwirt in einer Kneipe verwiesen. Der Zaddik steht - und hier ist die Geschichte durchaus zenbuddhistisch - hinter der Theke und wäscht Gläser aus. Er bittet den Jungen, ihm zu helfen, Tag für Tag, bis der Schüler am Freitagabend in sein Dorf zurückfährt. Er habe gar nichts gelernt, nur Gläser ausgewaschen, erzählt er seinem Rabbi. Der sagt ihm: »Ja weißt du denn nicht, wenn er die Gläser reinigt, reinigt er die Welt und macht so die Funken frei, die in der beschmutzten Materie sind, und führt sie in die Weltseele zurück.«

Mit dieser Geschichte möchte ich nun noch einmal zu unserer Ausgangsfrage zurück kehren: „Warum üben wir - und was üben nicht ist.“
Ich denke, dass mit dem bisher Gesagten wir eigentlich auf die Frage, was üben nicht ist gar nicht antworten können, denn alles, was uns begegnet, kann zur Übung werden und all jene Menschen, die bereit sind sich auf den Augenblick, auf das Jetzt einzulassen sind Übende, ob Schankwirte, Gaukler, reuelose Sünder; ob im Haushalt, auf dem Felde und im Garten oder im Kontakt mit den Menschen, die Mystiker aller Religionen kennen keinen Unterschied zwischen Heiligen und Sündern, zwischen Alltag und Heiligen Räumen. Sie wissen, dass es nur Menschen gibt, die in je ihrer Weise sich ins Leben ziehen lassen.
Und genau um diese Übung geht es.

Dazu eine letzte kleine Geschichte:
Eine französische Marienlegende erzählt von einem Gaukler, der sein unstetes Leben aufgibt und ins Kloster geht. Aber das Leben der Mönche bleibt ihm fremd, er weiß weder ein Gebet zu sprechen noch zu singen. Er klagt sein Leid der Jungfrau Maria, und sie fordert ihn auf Gott mit dem zu dienen, was er könne: Tanzen und Springen! Von da an verpaßt er alle Chorgebete, um in dieser Zeit zu tanzen. Er wird zum Abt gerufen und glaubt, verwiesen zu werden, aber der Abt sagt nur: »In deinem Tanz hast du Gott mit Leib und Seele geehrt. Uns aber möge er alle wohlfeilen Worte verzeihen, die über die Lippen kommen, ohne daß unser Herz sie sendet.«

Genau um dieses Einswerden geht es auch in unserer Übung.
Wir üben nicht “für” oder “um zu”, sondern dass unser Leben sich von innen her wandelt. Oft in einem langen und manchmal für den Einzelnen in einem kaum wahrnehmbaren Prozess. Aber mehr und mehr werden Geist und Körper und Leben zu einem Ausdruck des Dasein, das ganz selbstverständlich leben, fliessen kann.
Und genau das üben wir, im Grunde, in allen Lagen unseres Tages.
Und da ist der Tanz ein schönes Bild, eine gute Metapher für alles Lebendige.
In der fernöstlichen Tradition gibt es keine Geschichte von der Entstehung der Welt, so wie wir sie aus der Bibel kennen, sondern da wird berichtet, dass Gott Shiwa die Welt tanzt.
Im Tanz werden Körper und Seele zu einer Einheit.
Tanz ist Ausdruck des reinen Seins, der Freude oder auch des Leides, der Trauer. Und gerade im Tanz finden Freude und Leid ihre konkrete Gestalt, um die Erfahrung von Glück und Freude, aber auch, um Leid und Schmerz einen Ausdruck zu geben, um sie dann auch zu überwinden, ins Leben zu integrieren.
Der Tanz hat kein Ziel, ausser eben zu tanzen und da zu sein, sich in die Bewegung ziehen zu lassen, eins zu werden.
Wenn wir tanzen, tanzen wir nicht, um fertig zu werden, sondern wir tanzen um des Tanzes willen. So wird der Tanz Ausdruck der Freude, der Lebendigkeit und des Lebens schlechthin.

Symphonie und Tanz
Erfahrungsbericht
Du bist der Schöpfer der Symphonie und auch ihr Klang.
Ich eine unverwechselbare Note, die erklingt und verklingt.
Du bist der Tänzer und auch der Tanz.
Ich dieser wirbelnde Tanzschritt im zeitlosen Jetzt.
Du bist das Kommen und Gehen.
Das Geborenwerden und Sterben.
Warum Angst haben?
Du tanzt und singst.
Wirst geboren und stirbst.
Wer sagt da Ich?



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von Matthias Uhlich 19. Januar 2025
Teisho Raupe/Schmetterling Zum Beginn des neuen Jahres möchte ich gerne ein paar Gedanken zum Leben, zu unserem Leben versuchen. Es geht um das Vitale, auch wenn ich zunächst mit euch zu Grabstätten gehen will. Vielleicht kennen es einige von Spaziergängen über Friedhöfen, vor allem wenn man über alte, historische Anlagen geht, dass auf manchen Grabsteinen Symbole zu finden sind, die anders als die sonst üblichen christlichen Metaphern sind. Die sog. Freidenker im 19. Jh. waren es, die sich ganz bewusst von der christlichen Bestattungstradition distanzierten und sich verbrennen liessen und statt des Kreuzzeichens, andere Bilder, zum Teil aus der römischen bzw. griechischen oder germanisch-keltischen Tradition stammende Symbole auf ihren Grabsteinen verwendeten, so z.B., alte Runen oder die abgebrochene Säule, einen Lorbeer Kranz oder eine sich in den Schwanz beissende Schlange. Ein sehr häufig verwendetes Symbol, ist auch das Bild eines Schmetterlings, das auf einigen Grabsteinen platziert ist. Warum der Schmetterling? Er ist ein altes Gleichnis dafür, dass das Leben Veränderung, Entwicklung ist - auch wenn es so scheint, als fände da ein Sterben statt. Es ist die alte Frage, was passiert, wenn die Raupe stirbt? Stirbt sie wirklich oder geschieht hier nur eine Wandlung, eine Transformation von einem erdgebundenen, engen und begrenzten Dasein, hinein in eine völlig andere Dimension von Leben, Wirklichkeit, nämlich die Existenz des Schmetterlings? Was aber ist das Geheimnis der Metamorphose der Raupe über die Puppe zum Schmetterling? Es ist interessant, wie die Biologen diesen Prozess beschreiben. Und wenn wir diese Wandlung der Raupe im eben beschriebenen Sinne als ein Symbol des Lebens verstehen, was sagt dann dieser Prozess über unser Leben aus? Gerne möchte ich das nun Folgende in zwei Ebenen betrachten. Zum einen unsere ganz persönlichen, individuellen Erfahrungen von Wandlung und Veränderung, die wir in unserem Dasein und auf unserem spirituellen Lebensweg machen. Zum anderen aber auch, was wir gerade in der Gesellschaft und in der Welt an eigenartigem Spiel der Kräfte wahrnehmen können. (Von Ukraine über Nahost, Amerika, China, Russland, unsere Bundestagswahl im Februar - um nur wenige Stichworte zu nennen.) Sowohl was unseren persönlichen Lebensweg angeht, als auch was die gesamte Entwicklung in der Welt betrifft, so kommen wir immer mal wieder ins Fragen, wie wird, wie kann das alles nur so weiter gehen? Und manchem wird bei den Gedanken angst und bange. Der Transformationsprozess, den eine Raupe zum Schmetterling erfährt, könnte vielleicht helfen, uns selbst zu verstehen, aber auch das, was im Grossen geschieht, als einen Prozess der Wandlung und Reifung zu sehen. Und am Ende könnte dies uns Hilfe sein, unseren Weg, den wir sowohl im ganz persönlichen Leben als auch als gesellschaftlichen Prozess durchlaufen, anzunehmen, zu gehen und auch gestalten zu lernen. Und nun einige Beobachtungen der Biologen. Wenn sich die Raupe verpuppt, dann beginnt im Innern der Puppe ein unglaublich intensiver Prozess. Es geschieht nämlich, dass das alte Raupenleben sich auflöst und die ersten Schmetterlingszellen auftauchen. Die haben eine andere Qualität, als die der Raupe. Sie haben eine höher schwingende Frequenz, die, wenn man so will, ein anderes, ein neues Bewusstsein in sich tragen. Ein Erleben, das nicht mehr aus dem Erfahrungs- und Lebensbereich der Raupe stammt, sondern aus einer anderen Ebene kommt. Einer Wirklichkeit, die nicht mehr am Boden klebt, sondern aus einer Ebene kommt, in der sich Leben frei entfalten und bewegen kann. Wo der Raum nicht mehr begrenzt ist. Und so lasst uns den Prozess, der mit der Raupe in der Phase der Verpuppung geschieht, genauer betrachten. Was passiert da eigentlich? Die alten Raupenzellen werden sukzessive von den neuen Schmetterlingszellen verdrängt, ja buchstäblich über-lebt. Kennen wir das nicht auch aus unserem Leben, wie alte Überzeugungen, Konditionierungen, Verletzungen, wie alte Muster und Denkgewohnheiten, in dem Moment, wo wir uns ihnen bewusst stellen, langsam aufgelöst werden und Platz machen müssen für andere, neue Erfahrungen und Entwicklungen, die sich ihren Weg in unserem Leben bahnen. Oftmals entsteht so eine eigenartige Spannung; das Alte bleibt sozusagen Grund und Basis für das Neue, das werden will. Es braucht das Alte, dafür dass das Neue werden kann. Und so ist das Alte Teil desselben Wesens, das sich nun wandelt in einen völlig neuen Teil der Zukunft, der aber schon im alten Leben der Raupe repräsentiert wird. Ab einem bestimmten Punkt kommen immer mehr von den neuen Zellen dazu. Das eigene Raupenimmunsystem frisst das Alte auf und auf diese Weise treten immer mehr Schmetterlingszellen ins Leben. Und ab da fangen diese Zellen an, einen Verbund zu bilden. Also sie liieren sich mit anderen und es entsteht überall eine Art Cluster. Das neue Leben entsteht jetzt, indem es von sich her Kraft und Stärke entwickelt und somit das Alte über-lebt. Das Neue überwindet das Alte. Und es ist wichtig, dass das Neue nicht auf das Alte bezogen bleibt oder mit ihm kämpft, denn das bindet wichtige Kräfte, die es zum Wachstum für das neue Leben braucht. Eine uralte Erfahrung, die wir in der Menschheitsgeschichte sehr gut beobachten können, wie sich Systeme, Herrschaftsbereiche immer wieder wandeln und einander ablösen. Aber mancher von uns mag auch diese Wandlung vom Alten in neue Erfahrungs- und Erlebensbereiche aus seinem ganz eigenen Leben kennen. Es ist die Erfahrung, wie wir immer wieder neue Stufen, Veränderungen unseres Daseins durchschreiten. H. Hesse hat dies in seinem Gedicht „Stufen", das ich schon hin und wieder zitiert habe, in wunderbare Verse gebracht: Stufen Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern In andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, An keinem wie an einer Heimat hängen, Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten. Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen; Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde Uns neuen Räumen jung entgegen senden, Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden, Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde! Der Biologe Matthias Forster erklärt den Wandlungsprozess der Raupe zum Schmetterling so: Und das Neue kämpft nicht gegen das Alte, sondern es potenziert sich durch Clustering. Und eines Tages kollabiert das Immunsystem der Raupe und dann geht es ganz schnell und dann gibt es nur noch Schmetterlingszellen. Ein neues Bewusstsein. Aber die neue Form ist dann noch nicht da. Das heisst, die Hülle des Alten der Puppe hält dann dieses neue Bewusstsein zusammen, solange bis durch einen inneren Prozess die neue Form ausgereift ist. Und dann verhärtet die alte Form. Und das ist ganz wichtig. Wenn die alte Form nicht verhärten würde, könnte der Innendruck den Schmetterling nicht sprengen. Und dann ist es auch wichtig, dem Schmetterling, dem darf man nicht helfen. Der Schmetterling braucht die Anstrengung, den Widerstand sich aus der alten Hülle herauszuarbeiten, um an diesem Widerstand die Kraft zu entwickeln, die er braucht, um nachher fliegen zu können, sprich die Freiheit für sich erlangen und leben zu können. Was der Biologe hier beschreibt, scheint mir ganz wesentlich, weil es uns verstehen lehrt, mit den Widerständen in uns, aber auch in dem, was wir in unserer Aussenwelt gerade erleben, konstruktiv umzugehen. Verhärtungsprozesse, die Erfahrung, dass es in uns sehr eng und unerträglich wird, kennen manche von uns. Und es ist uns manchmal schwer, diese Enge und Ängste, die oftmals damit verbunden sind, und die wir auch im Aussen wahrnehmen können, zu würdigen und zu ehren. Und dennoch scheint dieser Druck, der so entsteht, geradezu die Voraussetzung in sich zu bergen, dass alte Muster und Konditionierungen gesprengt werden, damit neuer Raum entstehen, Entwicklung geschehen kann. Auch wenn es sich für das Leben einer Raupe in den verschiedenen Phasen ihres Daseins nicht so anfühlen mag – alles, was mit ihr geschieht, ist jener unglaubliche Prozess des Lebens, der sie durchpulst. Und auch die Momente des vermeintlichen Sterbens sind in der Tat Augenblicke, in denen altes, abgelebtes Leben zu Ende geht. Aber letztlich stirbt da nichts, sondern es passiert eine grosse Wandlung in immer neue Dimensionen unseres Daseins hinein. Das Leben entfaltet sich immer neu und kann letztlich nicht sterben. Wir wissen nicht, was das neue Jahr uns persönlich, aber auch in den grossen Zusammenhängen unseres Miteinanders bringen wird. Aber wir können darauf vertrauen, dass auch im Sterben, im Niedergang alter Muster und Erfahrungswelten, sowohl was unser ganz persönliches Leben angeht, als auch mit Blick auf das, was auf unserer Erde geschieht, das Leben den Sieg davon tragen wird. Dieses Wissen, dieses Vertrauen, kann dem Ganzen einen Sinn geben. Es kann uns auch zeigen, dass es letztlich nicht darum geht, in den Widerstand zu gehen, sondern dass das Clustering, so wie es die Zellen bei der Wandlung der Raupe zum Schmetterling tun, uns helfen wird. Es ist, dass wir uns mit Menschen, die die Zukunft fühlen und leben und gestalten wollen, zusammenfinden, um miteinander als Einzelne und als Gemeinschaft, als Sangha, unseren Weg aufs immer neue zu suchen und zu gehen. Wenn wir uns verbinden, stärken wir einander und potenzieren jene Kraft des Lebens, die durch alles Lebendige geht. Vielleicht sind wir mit dem System, das wir gerade leben, genau in dem Status der Raupe, die gefrässig alles, was vor ihr Maul kommt, auffrisst. Aber dieses System – wir wissen es, glaube ich alle – wird nicht überleben können. Die Schmetterlingskraft ist die Kraft des Lebens, die nach dem erdgebundenen Dasein der Raupe auf uns wartet. Wichtig ist es, dass wir, die wir um diese Kraft wissen, diese leben und weitertragen. Vielleicht ist es das, was wir der nächsten Generation mitgeben können, wenn die sich einmal fragen wird, wie soll es nun weiter gehen? Und damit noch ein letzter Gedanke. Wir sind wohl immer Beides zugleich: Raupe und Schmetterling. Wir sind immer Wandlung. Und in uns sind die Kräfte der Verstockung, der Verhärtung und Vereinzelung. Aber auch die Kraft des Aufbruchs, des immer neu sich schaffenden und schöpfenden Lebens. Im Zusammenspiel dieser Kräfte ereignet sich eine völlig andere Erfahrung von Leben, Lebendigkeit, die jenseits von all dem liegt, was wir bisher kannten: Da gibt es nichts mehr zu beurteilen. Da begegnet uns ein Wissen, das nicht weiss. Da begegnet uns LIEBE. Karl Matthias Uhlich (Hong zhi), Januar 2025
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