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"Aufmerksamkeit, Bewusstsein"

Matthias Uhlich • 22. Juli 2020

Teisho Zazen-Kai Juli 2020

Wir alle gehen nun schon einige Zeit den mystischen Weg miteinander und versuchen uns in der Übung der Stille immer wieder neu zurecht zu finden.
Manche von uns haben die Meditation gesucht, um die vielen Dinge, die sie im Alltag erfahren, die vielen Gedanken und Emotionen, die uns ständig umtreiben zu verarbeiten. Und wenn wir zur Ruhe kommen, tauchen - wie aus dem Nichts - Erinnerungen und Bilder, die schier unerschöpflich scheinen und uns erschöpfen. Endlich einmal frei zu werden von all dem was uns ständig beschäftigt und nicht zur Ruhe kommen lässt, das wünschen sich viele von uns.
Das Ziel der Zen-Übung besteht darin, diesen freien, offenen Raum zu schaffen, wo keine Gedanken, keine Gefühle uns beherrschen und uns in bestimmte Rollen oder Verhaltensweisen drängen.
Oft geschieht aber das ganze Gegenteil. In der Stille, in der Begegnung mit uns selbst taucht oft genug eine Vielfalt von Gedanken und Emotionen auf. Und da sind dann plötzlich die Ideen da, wie wir sein sollten, sein könnten…
Eine grosse Vielfalt von ganz unterschiedlichen Erfahrungen bricht über uns herein - oder in uns auf: Ideen, Bilder, Gedanken und eine grosse Kreativität und Vitalität - zum anderen werden wir aber auch mit Dingen konfrontiert, die uns irritieren und die wir manchmal nicht oder nur schwer verstehen.

Auf unserem Meditationsplatz begegnen uns zwei Welten, die im Grunde eine Welt sind:
Die Realität, die Welt, der Alltag in den verschiedenen Ausformungen.
Und unsere innere Wirklichkeit, die wir in unserer Seele, unserem Inneren finden, und die sich ein Leben lang zu dem geformt hat, was wir jetzt sind. Es sind die Werkzeuge mit denen wir innerlich das bearbeiten, was von aussen auf uns zukommt, an uns herangetragen wird.
Wie ich mit einem Reiz von aussen umgehe, hängt immer davon ab, welche Erfahrungen ich in meinem Leben schon gemacht habe. Darum reagieren wir auch so unterschiedlich auf äussere Reize, nehmen z.B. so unterschiedlich Menschen wahr.

Ihr alle kennt das Symbol für die Ewigkeit, die liegende Acht. Ich möchte dieses Bild einmal verwenden, um uns bewusst zu machen, wie wir in diesen beiden „Welten“ da sind, die der inneren Welt, unserem Seelenleben und der äusseren Welt, dem Leben was durch andere, das Aussen, auf uns zu kommt.
 
Wenn wir uns vom Symbol her verstehen, dann sind es ja keine zwei Welten, sondern im Grunde ist es EINS was uns da erscheint, auch wenn da zwei Bereiche zu sehen sind. Sie sind doch miteinander verbunden.
Und so umkreisen wir auf unserem Meditationsplatz immer wieder diese beiden Aspekte unseres Daseins, die Wirklichkeit, die Realität, wie sie uns entgegen kommt und unsere innere Wirklichkeit, mit unserer Freude, unserem Glück aber auch mit unseren Verletzungen und unseren Ängsten, Sorgen und Zweifeln.
Manchmal sind wir mehr auf der einen oder auch mal mehr auf der anderen Seite.
Mal löst die eine Seite, wenn uns Gutes, Erfreuliches entgegenkommt, Glück und Freude in uns aus, mal sind es Ängste oder Zweifel, wenn schwierige Situationen uns herausfordern.
Wenn wir mehr auf der Seite des Symbols sind, die unser Seelenleben vertritt, dann kann es sein, dass wir zufrieden und gelassen sind und wir die Welt um uns auch in einem harmonischen Einklang wahrnehmen. 
Aber auch das andere kann sein, dass wenn unsere Seele dunkel und zerrissen ist, dass wir dann die Welt und die Menschen um uns herum auch als schwierig und belastend erfahren.
Und immer wieder umkreisen wir die beiden Welten und wünschen uns, dass wir zur Ruhe kommen könnten.

Oft machen wir dann auch die Erfahrung, dass durch dieses ständige Umkreisen dessen, was gerade ist - sei es in unserem Inneren oder dass es äussere Dinge sind, die uns beschäftigen, gedanklich oder emotional, sich die Dinge nicht lösen, sondern eher noch komplizierter werden, sich mehr und mehr aufblähen wie ein Luftballon, der aufgeblasen wird und immer mehr Besitz von uns ergreifen. Und wir uns gedanklich oder emotional immer mehr darin verstricken.
Und dann kann es geschehen, dass wir buchstäblich fest-sitzen und in diesem Zustand immer mehr um uns kreisen und die Dinge, die sich lösen sollen sich immer mehr manifestieren.

Wie kommen wir da raus, in den offenen Raum, den das Symbol der Ewigkeit, Unendlichkeit vertritt?
Wie kann es uns gelingen, aus der Enge unseres Denkens und Fühlens, aus der oftmals schwierigen Zwiespältigkeit unserer Wahrnehmung heraus zu kommen?
Vielleicht ist es gut, wenn wir uns in diesem Zusammenhang den Begriff „Ewigkeit“ im Sinne der mystischen Erfahrung einmal klar machen.
In der abendländischen Tradition wird Ewigkeit oft als eine Anhäufung, ein Aneinanderreihen von Zeit verstanden: Du hast Zeit bis in alle Ewigkeit, meint in diesem Zusammenhang, du hast unendlich viel Zeit.
Wenn in der christlichen Tradition, bezugnehmend auf die Bibel, „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ gesprochen wird, dann ist der nicht endende Zeitstrahl, der von Gottes Schöpfung ausgeht und bis in alle Ewigkeit reicht, gemeint. Eine unendlich Zeitdehnung.

Die mystische Erfahrung aber ist eine ganz andere: sie sagt, Ewigkeit, das Nichts, die Leerheit erfährst du dann, wenn du in den Augenblick, in das Jetzt kommst.
Die Anweisung der Mystiker heisst dem entsprechend auch: komme in den Augenblick, in das Jetzt, in das, was gerade ist, dann gibt es keine Zeit, „er-fährst“ du das Zeitlose.
Der Augenblick, das ist der Punkt, wo sich die beiden Linien des Symbols der Unendlichkeit, der Zeitlosigkeit treffen. In jener Mitte, wo wir weder in der einen noch in der anderen Welt sind.
In der Mitte, im Niemandsland, an jenem Punkt des NICHTS, an dem Punkt, wo nichts geschieht, wo Leerheit ist und wo gerade da die Öffnung zum Ganzen möglich wird:
  • die Unterbrechung der vielen Gedanken -
  • das zur Ruhe kommen der Emotionen, die uns manchmal aus dem Nichts heraus überfallen können.
  • und die Öffnung in den Raum der anderen Wirklichkeit, den offenen Horizont des Seins.

Wenn uns die Unterbrechung gelingen kann, entsteht ein Raum der Ruhe;
eine Öffnung wo wir uns dem Neuen, der ordnenden Kraft in unserem Leben hingeben können. 
Und oft beginnt dieses zur Ruhe kommen mit winzigen Unterbrechungen, Augenblicken, wo sich für kurze Zeit dieser offene, leere Raum in uns ereignet. Und oft nehmen wir das gar nicht bewusst wahr. Aber es geschieht in uns, mit uns, und setzt uns in Bewegung.

Es ist der Augenblick, die urteilsfreie Aufmerksamkeit, das bewusst werden, das BEWUSSTSEIN, das uns in die Wandlung zieht.
Bewusstsein meint einfach nur präsent zu sein in dem, was gerade geschieht und beobachten, wie es von Augenblick zu Augenblick ist. 
Nichts wird daran gehindert ins Bewusstsein zu treten. 
Wir verdrängen nichts, eher im Gegenteil, alles was sich zeigen will von dem, was wir aus dem Bewusstsein verloren haben, darf sich zeigen. - Aber wir halten an nichts von dem, was da auftaucht, fest. Wir gehen nicht rein in das, was aus den Tiefen der Seele erscheint. Wir sind offen dafür, lassen uns aber nicht davon fesseln und reagieren nicht darauf.
Wir sind reines Gewahrsein. Wir beobachten nur, sind Zeugen dessen, was geschieht, mischen uns aber nicht ein. 
Sobald ein Gedanke, eine Emotion in den leeren, offenen Raum unseres Bewusstseins eindringt, akzeptieren wir dies und lassen diese sanft weiterziehen in den Atem, in das MU, in die Stille.
Das ist keine Verdrängung, denn Verdrängung versucht, das Auftauchen des Gedankens, der Emotion zu verhindern. Hier wird aber alles, was sich zeigt, auftaucht akzeptiert, ohne ihm nachzugehen.

Lasst mich in diesem Zusammenhang noch auf eine, meiner Meinung nach, Fehlentwicklung im Zen hinweisen.
Da gibt es die irrige Vorstellung man müsse, solle jedes Gefühl, jeden Gedanken wegdrücken, „wegsitzen“, um in die „Leere“ zu kommen.
Das aber ist ein totes Zen, das ist Verdrängung und macht Menschen gleichgültig und abgestumpft.
Unser Weg ist es, all das was sich zeigen will, wahr-zu-nehmen, an-zu-nehmen, es aber auch ziehen zu lassen, ohne ihm besondere Aufmerksamkeit zu widmen, weil sonst die Dinge ein Eigenleben bekommen und uns in ihren Bann ziehen.
Ja, das was sich zeigt, gehört zu mir, gehört aber oft in die Vergangenheit, während ich doch im Heute, im Hier und Jetzt lebe. 
Wenn es mir gelingt, beides zusammen zu bringen, das Alte, was gelöst, erlöst, integriert werden will - und mein Leben jetzt, in diesem Augenblick, so kann sich das, was - manchmal auch schmerzhaft – war, einfügen in meine Biographie als Teil meines Lebens, der zu mir gehört, mich aber nicht mehr bestimmt, sondern als Reichtum meines Weges mich begleitet und erfüllt.

Wenn wir uns täglich diesen offenen Raum der Stille, des Rückzuges schaffen und unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf den gegenwärtigen Augenblick richten, wenn wir alles, was dann auftaucht, in den offenen Raum, in die Leerheit ziehen lassen, werden wir merken, wie sich unser Geist, unsere Seele mehr und mehr von dem befreien kann, was sich im Laufe unseres Lebens in Leib und Seele gesammelt, eingraviert hat.

Um noch einmal zum Symbol der Ewigkeit zurück zu kehren…
Wenn wir auf der Seite der „Welt“ sind und mit der uns in Beziehung setzen, ist der Geist gezwungen, Erfahrungen zu machen und zu verarbeiten.
Wenn wir uns den Gedanken und Emotionen überlassen, werden wir in unsere Ich-Struktur gezogen und diese kann sich mehr und mehr verfestigen, anstatt dass sie sich wandeln und erneuern kann.

Wenn wir über einen längeren Zeitraum in der Übung des offenen Gewahrseins bleiben, dann lösen sich mehr und mehr die Spannungen, die aus dem gegenwärtigen Erleben entstehen, und mit der Zeit kommen wir tiefer in unsere Biographie, werden uns Ereignissen bewusst, die aus früheren Zeiten und Lebensabschnitten kommen. 
Intensive Gefühle zeigen sich, die wir manchmal nicht verstehen, auch nicht zuordnen können.
Da wir aber nichts anderes tun, als unsere Aufmerksamkeit nur nach innen zu richten und urteilsfrei einfach nur wahrnehmen, was da auftaucht, merken wir das alles, was sich zeigt, bin ja ich, ist mein Ego. Und die Dinge, die sich zeigen, zeigen sich, weil sie gelöst, erlöst, integriert werden wollen. 
Und wenn wir mehr und mehr dieses alles ziehen lassen können, merken wir, dass es da noch etwas anderes gibt, das jenseits unserer Ich-Struktur da ist; das, was wir wirklich sind.

So kommen wir mehr und mehr in einen Prozess der Klärung und Ruhe, nach der sich unsere Seele, unser Wesen im Tiefsten sehnt.

Ihr merkt, das wovon ich rede, ist ein langsamer aber sehr heilsamer Prozess der Wandlung, der Heilung, des sich Ordnens von Leben und dessen, worauf mein Leben hinaus will.
Die Übung, um dahin zu kommen, ist denkbar einfach und vielleicht gerade darin auch immer wieder Herausforderung und Auf-gabe für uns.
Lasst uns dennoch mit dieser so einfachen Übung, meinen Atem wahrzunehmen, vielleicht mit einem Leitwort oder Koan oder mit der Stille zu üben, weitergehen und uns immer wieder auf diesem Weg miteinander, untereinander stärken und in grauen Zeiten uns auch ermutigen, diesen Weg ins Jetzt, in den offenen Horizont unseres Daseins weiter zu gehen.


Matthias Uhlich


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von Matthias Uhlich 19. Januar 2025
Teisho Raupe/Schmetterling Zum Beginn des neuen Jahres möchte ich gerne ein paar Gedanken zum Leben, zu unserem Leben versuchen. Es geht um das Vitale, auch wenn ich zunächst mit euch zu Grabstätten gehen will. Vielleicht kennen es einige von Spaziergängen über Friedhöfen, vor allem wenn man über alte, historische Anlagen geht, dass auf manchen Grabsteinen Symbole zu finden sind, die anders als die sonst üblichen christlichen Metaphern sind. Die sog. Freidenker im 19. Jh. waren es, die sich ganz bewusst von der christlichen Bestattungstradition distanzierten und sich verbrennen liessen und statt des Kreuzzeichens, andere Bilder, zum Teil aus der römischen bzw. griechischen oder germanisch-keltischen Tradition stammende Symbole auf ihren Grabsteinen verwendeten, so z.B., alte Runen oder die abgebrochene Säule, einen Lorbeer Kranz oder eine sich in den Schwanz beissende Schlange. Ein sehr häufig verwendetes Symbol, ist auch das Bild eines Schmetterlings, das auf einigen Grabsteinen platziert ist. Warum der Schmetterling? Er ist ein altes Gleichnis dafür, dass das Leben Veränderung, Entwicklung ist - auch wenn es so scheint, als fände da ein Sterben statt. Es ist die alte Frage, was passiert, wenn die Raupe stirbt? Stirbt sie wirklich oder geschieht hier nur eine Wandlung, eine Transformation von einem erdgebundenen, engen und begrenzten Dasein, hinein in eine völlig andere Dimension von Leben, Wirklichkeit, nämlich die Existenz des Schmetterlings? Was aber ist das Geheimnis der Metamorphose der Raupe über die Puppe zum Schmetterling? Es ist interessant, wie die Biologen diesen Prozess beschreiben. Und wenn wir diese Wandlung der Raupe im eben beschriebenen Sinne als ein Symbol des Lebens verstehen, was sagt dann dieser Prozess über unser Leben aus? Gerne möchte ich das nun Folgende in zwei Ebenen betrachten. Zum einen unsere ganz persönlichen, individuellen Erfahrungen von Wandlung und Veränderung, die wir in unserem Dasein und auf unserem spirituellen Lebensweg machen. Zum anderen aber auch, was wir gerade in der Gesellschaft und in der Welt an eigenartigem Spiel der Kräfte wahrnehmen können. (Von Ukraine über Nahost, Amerika, China, Russland, unsere Bundestagswahl im Februar - um nur wenige Stichworte zu nennen.) Sowohl was unseren persönlichen Lebensweg angeht, als auch was die gesamte Entwicklung in der Welt betrifft, so kommen wir immer mal wieder ins Fragen, wie wird, wie kann das alles nur so weiter gehen? Und manchem wird bei den Gedanken angst und bange. Der Transformationsprozess, den eine Raupe zum Schmetterling erfährt, könnte vielleicht helfen, uns selbst zu verstehen, aber auch das, was im Grossen geschieht, als einen Prozess der Wandlung und Reifung zu sehen. Und am Ende könnte dies uns Hilfe sein, unseren Weg, den wir sowohl im ganz persönlichen Leben als auch als gesellschaftlichen Prozess durchlaufen, anzunehmen, zu gehen und auch gestalten zu lernen. Und nun einige Beobachtungen der Biologen. Wenn sich die Raupe verpuppt, dann beginnt im Innern der Puppe ein unglaublich intensiver Prozess. Es geschieht nämlich, dass das alte Raupenleben sich auflöst und die ersten Schmetterlingszellen auftauchen. Die haben eine andere Qualität, als die der Raupe. Sie haben eine höher schwingende Frequenz, die, wenn man so will, ein anderes, ein neues Bewusstsein in sich tragen. Ein Erleben, das nicht mehr aus dem Erfahrungs- und Lebensbereich der Raupe stammt, sondern aus einer anderen Ebene kommt. Einer Wirklichkeit, die nicht mehr am Boden klebt, sondern aus einer Ebene kommt, in der sich Leben frei entfalten und bewegen kann. Wo der Raum nicht mehr begrenzt ist. Und so lasst uns den Prozess, der mit der Raupe in der Phase der Verpuppung geschieht, genauer betrachten. Was passiert da eigentlich? Die alten Raupenzellen werden sukzessive von den neuen Schmetterlingszellen verdrängt, ja buchstäblich über-lebt. Kennen wir das nicht auch aus unserem Leben, wie alte Überzeugungen, Konditionierungen, Verletzungen, wie alte Muster und Denkgewohnheiten, in dem Moment, wo wir uns ihnen bewusst stellen, langsam aufgelöst werden und Platz machen müssen für andere, neue Erfahrungen und Entwicklungen, die sich ihren Weg in unserem Leben bahnen. Oftmals entsteht so eine eigenartige Spannung; das Alte bleibt sozusagen Grund und Basis für das Neue, das werden will. Es braucht das Alte, dafür dass das Neue werden kann. Und so ist das Alte Teil desselben Wesens, das sich nun wandelt in einen völlig neuen Teil der Zukunft, der aber schon im alten Leben der Raupe repräsentiert wird. Ab einem bestimmten Punkt kommen immer mehr von den neuen Zellen dazu. Das eigene Raupenimmunsystem frisst das Alte auf und auf diese Weise treten immer mehr Schmetterlingszellen ins Leben. Und ab da fangen diese Zellen an, einen Verbund zu bilden. Also sie liieren sich mit anderen und es entsteht überall eine Art Cluster. Das neue Leben entsteht jetzt, indem es von sich her Kraft und Stärke entwickelt und somit das Alte über-lebt. Das Neue überwindet das Alte. Und es ist wichtig, dass das Neue nicht auf das Alte bezogen bleibt oder mit ihm kämpft, denn das bindet wichtige Kräfte, die es zum Wachstum für das neue Leben braucht. Eine uralte Erfahrung, die wir in der Menschheitsgeschichte sehr gut beobachten können, wie sich Systeme, Herrschaftsbereiche immer wieder wandeln und einander ablösen. Aber mancher von uns mag auch diese Wandlung vom Alten in neue Erfahrungs- und Erlebensbereiche aus seinem ganz eigenen Leben kennen. Es ist die Erfahrung, wie wir immer wieder neue Stufen, Veränderungen unseres Daseins durchschreiten. H. Hesse hat dies in seinem Gedicht „Stufen", das ich schon hin und wieder zitiert habe, in wunderbare Verse gebracht: Stufen Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern In andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, An keinem wie an einer Heimat hängen, Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten. Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen; Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde Uns neuen Räumen jung entgegen senden, Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden, Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde! Der Biologe Matthias Forster erklärt den Wandlungsprozess der Raupe zum Schmetterling so: Und das Neue kämpft nicht gegen das Alte, sondern es potenziert sich durch Clustering. Und eines Tages kollabiert das Immunsystem der Raupe und dann geht es ganz schnell und dann gibt es nur noch Schmetterlingszellen. Ein neues Bewusstsein. Aber die neue Form ist dann noch nicht da. Das heisst, die Hülle des Alten der Puppe hält dann dieses neue Bewusstsein zusammen, solange bis durch einen inneren Prozess die neue Form ausgereift ist. Und dann verhärtet die alte Form. Und das ist ganz wichtig. Wenn die alte Form nicht verhärten würde, könnte der Innendruck den Schmetterling nicht sprengen. Und dann ist es auch wichtig, dem Schmetterling, dem darf man nicht helfen. Der Schmetterling braucht die Anstrengung, den Widerstand sich aus der alten Hülle herauszuarbeiten, um an diesem Widerstand die Kraft zu entwickeln, die er braucht, um nachher fliegen zu können, sprich die Freiheit für sich erlangen und leben zu können. Was der Biologe hier beschreibt, scheint mir ganz wesentlich, weil es uns verstehen lehrt, mit den Widerständen in uns, aber auch in dem, was wir in unserer Aussenwelt gerade erleben, konstruktiv umzugehen. Verhärtungsprozesse, die Erfahrung, dass es in uns sehr eng und unerträglich wird, kennen manche von uns. Und es ist uns manchmal schwer, diese Enge und Ängste, die oftmals damit verbunden sind, und die wir auch im Aussen wahrnehmen können, zu würdigen und zu ehren. Und dennoch scheint dieser Druck, der so entsteht, geradezu die Voraussetzung in sich zu bergen, dass alte Muster und Konditionierungen gesprengt werden, damit neuer Raum entstehen, Entwicklung geschehen kann. Auch wenn es sich für das Leben einer Raupe in den verschiedenen Phasen ihres Daseins nicht so anfühlen mag – alles, was mit ihr geschieht, ist jener unglaubliche Prozess des Lebens, der sie durchpulst. Und auch die Momente des vermeintlichen Sterbens sind in der Tat Augenblicke, in denen altes, abgelebtes Leben zu Ende geht. Aber letztlich stirbt da nichts, sondern es passiert eine grosse Wandlung in immer neue Dimensionen unseres Daseins hinein. Das Leben entfaltet sich immer neu und kann letztlich nicht sterben. Wir wissen nicht, was das neue Jahr uns persönlich, aber auch in den grossen Zusammenhängen unseres Miteinanders bringen wird. Aber wir können darauf vertrauen, dass auch im Sterben, im Niedergang alter Muster und Erfahrungswelten, sowohl was unser ganz persönliches Leben angeht, als auch mit Blick auf das, was auf unserer Erde geschieht, das Leben den Sieg davon tragen wird. Dieses Wissen, dieses Vertrauen, kann dem Ganzen einen Sinn geben. Es kann uns auch zeigen, dass es letztlich nicht darum geht, in den Widerstand zu gehen, sondern dass das Clustering, so wie es die Zellen bei der Wandlung der Raupe zum Schmetterling tun, uns helfen wird. Es ist, dass wir uns mit Menschen, die die Zukunft fühlen und leben und gestalten wollen, zusammenfinden, um miteinander als Einzelne und als Gemeinschaft, als Sangha, unseren Weg aufs immer neue zu suchen und zu gehen. Wenn wir uns verbinden, stärken wir einander und potenzieren jene Kraft des Lebens, die durch alles Lebendige geht. Vielleicht sind wir mit dem System, das wir gerade leben, genau in dem Status der Raupe, die gefrässig alles, was vor ihr Maul kommt, auffrisst. Aber dieses System – wir wissen es, glaube ich alle – wird nicht überleben können. Die Schmetterlingskraft ist die Kraft des Lebens, die nach dem erdgebundenen Dasein der Raupe auf uns wartet. Wichtig ist es, dass wir, die wir um diese Kraft wissen, diese leben und weitertragen. Vielleicht ist es das, was wir der nächsten Generation mitgeben können, wenn die sich einmal fragen wird, wie soll es nun weiter gehen? Und damit noch ein letzter Gedanke. Wir sind wohl immer Beides zugleich: Raupe und Schmetterling. Wir sind immer Wandlung. Und in uns sind die Kräfte der Verstockung, der Verhärtung und Vereinzelung. Aber auch die Kraft des Aufbruchs, des immer neu sich schaffenden und schöpfenden Lebens. Im Zusammenspiel dieser Kräfte ereignet sich eine völlig andere Erfahrung von Leben, Lebendigkeit, die jenseits von all dem liegt, was wir bisher kannten: Da gibt es nichts mehr zu beurteilen. Da begegnet uns ein Wissen, das nicht weiss. Da begegnet uns LIEBE. Karl Matthias Uhlich (Hong zhi), Januar 2025
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