Wir alle gehen nun schon einige Zeit den mystischen Weg miteinander und versuchen uns in der Übung der Stille immer wieder neu zurecht zu finden.
Manche von uns haben die Meditation gesucht, um die vielen Dinge, die sie im Alltag erfahren, die vielen Gedanken und Emotionen, die uns ständig umtreiben zu verarbeiten. Und wenn wir zur Ruhe kommen, tauchen - wie aus dem Nichts - Erinnerungen und Bilder, die schier unerschöpflich scheinen und uns erschöpfen. Endlich einmal frei zu werden von all dem was uns ständig beschäftigt und nicht zur Ruhe kommen lässt, das wünschen sich viele von uns.
Das Ziel der Zen-Übung besteht darin, diesen freien, offenen Raum zu schaffen, wo keine Gedanken, keine Gefühle uns beherrschen und uns in bestimmte Rollen oder Verhaltensweisen drängen.
Oft geschieht aber das ganze Gegenteil. In der Stille, in der Begegnung mit uns selbst taucht oft genug eine Vielfalt von Gedanken und Emotionen auf. Und da sind dann plötzlich die Ideen da, wie wir sein sollten, sein könnten…
Eine grosse Vielfalt von ganz unterschiedlichen Erfahrungen bricht über uns herein - oder in uns auf: Ideen, Bilder, Gedanken und eine grosse Kreativität und Vitalität - zum anderen werden wir aber auch mit Dingen konfrontiert, die uns irritieren und die wir manchmal nicht oder nur schwer verstehen.
Auf unserem Meditationsplatz begegnen uns zwei Welten, die im Grunde eine Welt sind:
Die Realität, die Welt, der Alltag in den verschiedenen Ausformungen.
Und unsere innere Wirklichkeit, die wir in unserer Seele, unserem Inneren finden, und die sich ein Leben lang zu dem geformt hat, was wir jetzt sind. Es sind die Werkzeuge mit denen wir innerlich das bearbeiten, was von aussen auf uns zukommt, an uns herangetragen wird.
Wie ich mit einem Reiz von aussen umgehe, hängt immer davon ab, welche Erfahrungen ich in meinem Leben schon gemacht habe. Darum reagieren wir auch so unterschiedlich auf äussere Reize, nehmen z.B. so unterschiedlich Menschen wahr.
Ihr alle kennt das Symbol für die Ewigkeit, die liegende Acht. Ich möchte dieses Bild einmal verwenden, um uns bewusst zu machen, wie wir in diesen beiden „Welten“ da sind, die der inneren Welt, unserem Seelenleben und der äusseren Welt, dem Leben was durch andere, das Aussen, auf uns zu kommt.
Wenn wir uns vom Symbol her verstehen, dann sind es ja keine zwei Welten, sondern im Grunde ist es EINS was uns da erscheint, auch wenn da zwei Bereiche zu sehen sind. Sie sind doch miteinander verbunden.
Und so umkreisen wir auf unserem Meditationsplatz immer wieder diese beiden Aspekte unseres Daseins, die Wirklichkeit, die Realität, wie sie uns entgegen kommt und unsere innere Wirklichkeit, mit unserer Freude, unserem Glück aber auch mit unseren Verletzungen und unseren Ängsten, Sorgen und Zweifeln.
Manchmal sind wir mehr auf der einen oder auch mal mehr auf der anderen Seite.
Mal löst die eine Seite, wenn uns Gutes, Erfreuliches entgegenkommt, Glück und Freude in uns aus, mal sind es Ängste oder Zweifel, wenn schwierige Situationen uns herausfordern.
Wenn wir mehr auf der Seite des Symbols sind, die unser Seelenleben vertritt, dann kann es sein, dass wir zufrieden und gelassen sind und wir die Welt um uns auch in einem harmonischen Einklang wahrnehmen.
Aber auch das andere kann sein, dass wenn unsere Seele dunkel und zerrissen ist, dass wir dann die Welt und die Menschen um uns herum auch als schwierig und belastend erfahren.
Und immer wieder umkreisen wir die beiden Welten und wünschen uns, dass wir zur Ruhe kommen könnten.
Oft machen wir dann auch die Erfahrung, dass durch dieses ständige Umkreisen dessen, was gerade ist - sei es in unserem Inneren oder dass es äussere Dinge sind, die uns beschäftigen, gedanklich oder emotional, sich die Dinge nicht lösen, sondern eher noch komplizierter werden, sich mehr und mehr aufblähen wie ein Luftballon, der aufgeblasen wird und immer mehr Besitz von uns ergreifen. Und wir uns gedanklich oder emotional immer mehr darin verstricken.
Und dann kann es geschehen, dass wir buchstäblich fest-sitzen und in diesem Zustand immer mehr um uns kreisen und die Dinge, die sich lösen sollen sich immer mehr manifestieren.
Wie kommen wir da raus, in den offenen Raum, den das Symbol der Ewigkeit, Unendlichkeit vertritt?
Wie kann es uns gelingen, aus der Enge unseres Denkens und Fühlens, aus der oftmals schwierigen Zwiespältigkeit unserer Wahrnehmung heraus zu kommen?
Vielleicht ist es gut, wenn wir uns in diesem Zusammenhang den Begriff „Ewigkeit“ im Sinne der mystischen Erfahrung einmal klar machen.
In der abendländischen Tradition wird Ewigkeit oft als eine Anhäufung, ein Aneinanderreihen von Zeit verstanden: Du hast Zeit bis in alle Ewigkeit, meint in diesem Zusammenhang, du hast unendlich viel Zeit.
Wenn in der christlichen Tradition, bezugnehmend auf die Bibel, „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ gesprochen wird, dann ist der nicht endende Zeitstrahl, der von Gottes Schöpfung ausgeht und bis in alle Ewigkeit reicht, gemeint. Eine unendlich Zeitdehnung.
Die mystische Erfahrung aber ist eine ganz andere: sie sagt, Ewigkeit, das Nichts, die Leerheit erfährst du dann, wenn du in den Augenblick, in das Jetzt kommst.
Die Anweisung der Mystiker heisst dem entsprechend auch: komme in den Augenblick, in das Jetzt, in das, was gerade ist, dann gibt es keine Zeit, „er-fährst“ du das Zeitlose.
Der Augenblick, das ist der Punkt, wo sich die beiden Linien des Symbols der Unendlichkeit, der Zeitlosigkeit treffen. In jener Mitte, wo wir weder in der einen noch in der anderen Welt sind.
In der Mitte, im Niemandsland, an jenem Punkt des NICHTS, an dem Punkt, wo nichts geschieht, wo Leerheit ist und wo gerade da die Öffnung zum Ganzen möglich wird:
- die Unterbrechung der vielen Gedanken -
- das zur Ruhe kommen der Emotionen, die uns manchmal aus dem Nichts heraus überfallen können.
- und die Öffnung in den Raum der anderen Wirklichkeit, den offenen Horizont des Seins.
Wenn uns die Unterbrechung gelingen kann, entsteht ein Raum der Ruhe;
eine Öffnung wo wir uns dem Neuen, der ordnenden Kraft in unserem Leben hingeben können.
Und oft beginnt dieses zur Ruhe kommen mit winzigen Unterbrechungen, Augenblicken, wo sich für kurze Zeit dieser offene, leere Raum in uns ereignet. Und oft nehmen wir das gar nicht bewusst wahr. Aber es geschieht in uns, mit uns, und setzt uns in Bewegung.
Es ist der Augenblick, die urteilsfreie Aufmerksamkeit, das bewusst werden, das BEWUSSTSEIN, das uns in die Wandlung zieht.
Bewusstsein
meint einfach nur präsent zu sein in dem, was gerade geschieht und beobachten, wie es von Augenblick zu Augenblick ist.
Nichts wird daran gehindert ins Bewusstsein zu treten.
Wir verdrängen nichts, eher im Gegenteil, alles was sich zeigen will von dem, was wir aus dem Bewusstsein verloren haben, darf sich zeigen. - Aber wir halten an nichts von dem, was da auftaucht, fest. Wir gehen nicht rein in das, was aus den Tiefen der Seele erscheint. Wir sind offen dafür, lassen uns aber nicht davon fesseln und reagieren nicht darauf.
Wir sind reines Gewahrsein. Wir beobachten nur, sind Zeugen dessen, was geschieht, mischen uns aber nicht ein.
Sobald ein Gedanke, eine Emotion in den leeren, offenen Raum unseres Bewusstseins eindringt, akzeptieren wir dies und lassen diese sanft weiterziehen in den Atem, in das MU, in die Stille.
Das ist keine Verdrängung, denn Verdrängung versucht, das Auftauchen des Gedankens, der Emotion zu verhindern. Hier wird aber alles, was sich zeigt, auftaucht akzeptiert, ohne ihm nachzugehen.
Lasst mich in diesem Zusammenhang noch auf eine, meiner Meinung nach, Fehlentwicklung im Zen hinweisen.
Da gibt es die irrige Vorstellung man müsse, solle jedes Gefühl, jeden Gedanken wegdrücken, „wegsitzen“, um in die „Leere“ zu kommen.
Das aber ist ein totes Zen, das ist Verdrängung und macht Menschen gleichgültig und abgestumpft.
Unser Weg ist es, all das was sich zeigen will, wahr-zu-nehmen, an-zu-nehmen, es aber auch ziehen zu lassen, ohne ihm besondere Aufmerksamkeit zu widmen, weil sonst die Dinge ein Eigenleben bekommen und uns in ihren Bann ziehen.
Ja, das was sich zeigt, gehört zu mir, gehört aber oft in die Vergangenheit, während ich doch im Heute, im Hier und Jetzt lebe.
Wenn es mir gelingt, beides zusammen zu bringen, das Alte, was gelöst, erlöst, integriert werden will - und mein Leben jetzt, in diesem Augenblick, so kann sich das, was - manchmal auch schmerzhaft – war, einfügen in meine Biographie als Teil meines Lebens, der zu mir gehört, mich aber nicht mehr bestimmt, sondern als Reichtum meines Weges mich begleitet und erfüllt.
Wenn wir uns täglich diesen offenen Raum der Stille, des Rückzuges schaffen und unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf den gegenwärtigen Augenblick richten, wenn wir alles, was dann auftaucht, in den offenen Raum, in die Leerheit ziehen lassen, werden wir merken, wie sich unser Geist, unsere Seele mehr und mehr von dem befreien kann, was sich im Laufe unseres Lebens in Leib und Seele gesammelt, eingraviert hat.
Um noch einmal zum Symbol der Ewigkeit zurück zu kehren…
Wenn wir auf der Seite der „Welt“ sind und mit der uns in Beziehung setzen, ist der Geist gezwungen, Erfahrungen zu machen und zu verarbeiten.
Wenn wir uns den Gedanken und Emotionen überlassen, werden wir in unsere Ich-Struktur gezogen und diese kann sich mehr und mehr verfestigen, anstatt dass sie sich wandeln und erneuern kann.
Wenn wir über einen längeren Zeitraum in der Übung des offenen Gewahrseins bleiben, dann lösen sich mehr und mehr die Spannungen, die aus dem gegenwärtigen Erleben entstehen, und mit der Zeit kommen wir tiefer in unsere Biographie, werden uns Ereignissen bewusst, die aus früheren Zeiten und Lebensabschnitten kommen.
Intensive Gefühle zeigen sich, die wir manchmal nicht verstehen, auch nicht zuordnen können.
Da wir aber nichts anderes tun, als unsere Aufmerksamkeit nur nach innen zu richten und urteilsfrei einfach nur wahrnehmen, was da auftaucht, merken wir das alles, was sich zeigt, bin ja ich, ist mein Ego. Und die Dinge, die sich zeigen, zeigen sich, weil sie gelöst, erlöst, integriert werden wollen.
Und wenn wir mehr und mehr dieses alles ziehen lassen können, merken wir, dass es da noch etwas anderes gibt, das jenseits unserer Ich-Struktur da ist; das, was wir wirklich sind.
So kommen wir mehr und mehr in einen Prozess der Klärung und Ruhe, nach der sich unsere Seele, unser Wesen im Tiefsten sehnt.
Ihr merkt, das wovon ich rede, ist ein langsamer aber sehr heilsamer Prozess der Wandlung, der Heilung, des sich Ordnens von Leben und dessen, worauf mein Leben hinaus will.
Die Übung, um dahin zu kommen, ist denkbar einfach und vielleicht gerade darin auch immer wieder Herausforderung und Auf-gabe für uns.
Lasst uns dennoch mit dieser so einfachen Übung, meinen Atem wahrzunehmen, vielleicht mit einem Leitwort oder Koan oder mit der Stille zu üben, weitergehen und uns immer wieder auf diesem Weg miteinander, untereinander stärken und in grauen Zeiten uns auch ermutigen, diesen Weg ins Jetzt, in den offenen Horizont unseres Daseins weiter zu gehen.
Matthias Uhlich