Blog Post

"Akzeptanz"

Matthias Uhlich • 12. Juli 2020

Teisho Juli 2020

Johannes Tauler: "Gelassenheit"
Hätten alle Teufel
und alle Menschen sich verschworen,
und würde der Mensch alles erleiden
und sich lassen
und diese Finsternis und Bedrängnis aushalten,
wie es ihn auch schmerzen und bedrücken mag,
und würde er keine Ausflüchte suchen, so oder so,
darin nähme er mehr zu und käme weiter
als in all den äußeren Übungen,
die die ganze Welt zusammen tun könnte.
Bleibe nur bei dir selber
und lauf nicht nach außen
und halte dein Leiden aus
und suche nicht etwas anderes! -
So laufen etliche Menschen,
wenn sie in dieser inwendigen Armut stehen,
um immer etwas anderes zu suchen
und dadurch der Bedrängnis zu entgehen.
Das ist gar schädlich.
Oder sie gehen, um zu klagen
oder um Lehrmeister zu fragen,
und geraten noch mehr in die Irre.

Da kommen einige und reden von so grossen,
geistigen, überwesentlichen, überformlichen Dingen,
gerade als wären sie über die Himmel geflogen.
Und dabei kamen sie noch nie einen Schritt aus sich selber
durch die Erkenntnis ihres eigenen Nichts.

Sie mögen wohl zu vernünftiger Wahrheit gelangt sein;
aber zur lebendigen Wahrheit,
wo die Wahrheit Wahrheit ist,
dazu gelangt niemand,
als auf diesem Weg des eigenen Nichts.


Die letzten Wochen und Monate haben manche in der einen oder anderen Weise in den Bereich von Grenzerfahrungen gebracht.
Auch für uns mag das Thema „Grenze“ in dieser Zeit in der einen oder anderen Weise aufgetaucht sein. Darüber hinaus ist aber das Erleben von Grenzen eine ganz wichtige Erfahrung auf dem mystisch-spirituellen Weg.

Grenzen:
abgrenzen, ausgrenzen, mich nicht entfalten können, nicht das leben können was ich mir wünsche, wonach ich mich sehne.
„Grenze“ hat für viele Menschen einen sehr negativen Klang und wenn sie weg ist - oder wenn sie, die Grenzen, weg sind, fühlen wir uns endlich frei und lebendig.

Es gibt aber auch eine andere Seite der Grenze, wo wir merken, dass es eine heilsame Begrenzung gibt, dass Grenzen schützen, dass sie Leben bewahren können und so heilsam für uns und unseren Weg sind.

Und dennoch, es fällt uns vor allem auf unserem spirituellen Weg nicht leicht, mit Grenzen umzugehen.
In der Stille, immer dann, wenn wir einmal uns Zeit gönnen und einmal zur Ruhe kommen, geht unsere Ich-Struktur mit uns auf Reisen.
Bilder, Ideen, Gedanken, Konzepte erblühen auf unserem Meditationsplatz wie eine bunte Wiese in ihrer vielfältigen Pracht. Und manchmal begegnen uns dann auch dunkle Schatten, Angst, Verzweiflung, Schmerzen und dann ist er da, der dringende Wunsch, diesen Raum der Dunkelheit zu verlassen. Wir wünschen uns sehnlichst, dass alle Probleme, alle Sorgen und das Leiden, dass all das, was uns überfällt und manchmal in die Enge treibt, so schnell wie möglich wieder weg sein soll.

In diesem Sinne wäre dann die Grenzerfahrung, in die wir hinein kommen hilfreich, ja vielleicht sogar Not-wendig, weil sie uns zeigt, dass wir auf unserem Lebensweg etwas korrigieren müssen; unser Leben vielleicht nicht mehr richtig stimmig ist und es an der Zeit ist, an der Art wie wir leben etwas wirklich von Grund auf zu ändern.
Am sinnfälligsten wird das, was ich meine, bei Menschen, die in das Burnout-Symptom hinein kommen.
Da reizt jemand die Grenzen so lange aus, bis alles zusammenbricht.

Oft lässt sich dieses Phänomen auch auf seelische Prozesse beziehen, bei unserer Arbeit an unserem ganz persönlichen Leben beobachten.
Manchmal beginnt Reifung, Wandlung erst, wenn wir in bestimmte Grenzbereiche kommen, die uns mehr oder weniger dazu nötigen tiefer zu gehen, um aus einer anderen Ebene heraus Lösung, Reifung, Wachstum zu erfahren.

Da wäre es sicher gut, wenn es eine Meditationstechnik gäbe, die uns hilft da raus zu kommen. Denn wozu meditiere ich, wenn nicht dazu, dass ich mit meinen Problemen besser umgehen kann, um die Einengung und Begrenzungen, die das Leben mir schafft, endlich hinter mir zu lassen und ich in die Freiheit komme, den freien Raum meines Lebens betreten kann.

Aber gibt es eine solche Technik, die ich anwenden kann, um die engen Schranken in meinem Leben vielleicht etwas zu erweitern?

Vielleicht gibt es keine so eindeutige Antwort auf diese Frage.

Eine Technik im Sinne, „….man nehme….“ gibt es sicher nicht, aber es gibt einen reichen Erfahrungsschatz in der mystischen Tradition wie Menschen mit den Herausforderungen, die ihnen das Leben in so vielfältiger Weise gebracht hat, umgegangen sind.
Und der zentrale Begriff in diesem Zusammenhang heisst: Akzeptanz, annehmen dessen was gerade ist.

Wenn mir Vertrautes, Liebgewordenes wegbricht, wenn Beziehungsgefüge ins Wanken geraten, wenn eine Krankheit uns bedroht oder Angst und Sorgen um das Wohl uns in unsere Grenzen verweisen, wie sollen, können wir uns dann in der Stille auf unserem Meditationsplatz noch aushalten?
Wir wollen weg, wir wollen aufspringen, was tun, die Situation zum Besseren wenden und das oder die Probleme anpacken und lösen, anstatt tatenlos nur herum zu sitzen.
Ist Akzeptanz nicht das absolut falsche Wort hier in diesem Zusammenhang?

Ja, diese Frage ist richtig und wichtig, führt sie uns doch ganz nah an uns und unsere Verhaltensmuster.

Lasst uns darum noch etwas genauer auf den Begriff Akzeptanz schauen.
Akzeptanz meint nicht, ich lasse alles laufen wie es ist und mir ist im Grunde alles egal ...
Akzeptanz ist auch kein dumpfes, passives hinnehmen von dem was andere oder das „Schicksal“ mit mir machen.
Akzeptanz meint wahrnehmen dessen was ist. Meint mich mit dem, was das LEBEN jetzt gerade an mich heran trägt, auseinander zu setzen; mich einzulassen in das, was der Prozess meines Jetzt gerade von mir fordert – an Veränderung, an Wandlung, an Lebendigkeit, an Wachstum.
Das ist der Versuch, in dem manchmal so schmerzlichen Spiel der Kräfte, der Angst und der Sorgen, des nicht Wissens wohin mit mir - ja überhaupt mit der Frage, „wie soll es nur weitergehen?“, mich auszuhalten.
 
Akzeptanz fordert mich bis in den letzten Winkel meines Lebens, meiner Seele.
Das ICH will oft was ganz anderes, es möchte gerne, dass alles so bleibt wie es ist.
Das Ego mag keine Veränderungen, fühlt sich von denen bedroht, infrage gestellt.
Darum wehrt es sich und hat eine Menge guter Ideen, was man alles machen könnte.
Aber wenn wir anfangen zu „machen“ dann bleibt alles beim Alten. Entwicklung, Wachstum, Veränderung ist dann nicht möglich.
Wir hängen in uns selbst fest.

Reiner Maria Rilke hat diesen schönen Text geschrieben, den wohl die meisten von euch kennen:

Rilke: "Über die Dinge"

Man muss den Dingen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen,
die, wie jeder Fortschritt, tief von innen kommen muss
und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann.
Alles ist austragen und gebären.

Jeden Eindruck und jeden Keim eines Gefühls ganz in sich,
im Dunkel, im Unsagbaren, Unbewussten sich vollenden lassen und
mit tiefer Demut und Geduld die Stunde einer neuen Klarheit abwarten.

Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne die Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte.

Er kommt doch.

Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind,
als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos still und weit.
Man muss Geduld haben gegen das Ungelöste im Herzen
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben und wie Bücher,
die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antwort hinein.

Da ist es wieder in dem was Rilke schreibt; es geht nicht um die schnelle Antwort, die pfiffige Lösung aus dem Kopf, die sicherstellt, dass alles so bleibt wie es war, sondern es geht in dem was uns begegnet um Wandlung, Veränderung aus der Enge in die Weite - vor allem aber in die Lebendigkeit.

Meine Erfahrung in diesem Zusammenhang ist, wenn wir Aufforderungen, die das Leben uns als 
Auf-Gabe stellt, nicht wirklich annehmen und eine schnelle „Kopflösung“ suchen, kommt das Problem/Thema meist als Wiedervorlage auf uns zu - jedenfalls so lange, bis wir bereit sind eine Lösung tief in uns zu suchen, „im Dunkel, im Unsagbaren, Unbewussten sich vollenden lassen und mit tiefer Demut und Geduld die Stunde einer neuen Klarheit abwarten.“

Die Wandlung, die dann aus dieser Ebene kommt, hat Bestand und meint Reifung, Wachstum, LEBEN, LIEBE.

Zum Schluss:
Teresa von Avila

Ich möchte, dass ihr nur dieses begreift:
Es geht auf diesem geistlichen Weg nicht darum,
viel zu denken, sondern viel zu leben.
Was am meisten Liebe in euch weckt,
das tut.


Mehr im Blog

von Matthias Uhlich 19. Januar 2025
Teisho Raupe/Schmetterling Zum Beginn des neuen Jahres möchte ich gerne ein paar Gedanken zum Leben, zu unserem Leben versuchen. Es geht um das Vitale, auch wenn ich zunächst mit euch zu Grabstätten gehen will. Vielleicht kennen es einige von Spaziergängen über Friedhöfen, vor allem wenn man über alte, historische Anlagen geht, dass auf manchen Grabsteinen Symbole zu finden sind, die anders als die sonst üblichen christlichen Metaphern sind. Die sog. Freidenker im 19. Jh. waren es, die sich ganz bewusst von der christlichen Bestattungstradition distanzierten und sich verbrennen liessen und statt des Kreuzzeichens, andere Bilder, zum Teil aus der römischen bzw. griechischen oder germanisch-keltischen Tradition stammende Symbole auf ihren Grabsteinen verwendeten, so z.B., alte Runen oder die abgebrochene Säule, einen Lorbeer Kranz oder eine sich in den Schwanz beissende Schlange. Ein sehr häufig verwendetes Symbol, ist auch das Bild eines Schmetterlings, das auf einigen Grabsteinen platziert ist. Warum der Schmetterling? Er ist ein altes Gleichnis dafür, dass das Leben Veränderung, Entwicklung ist - auch wenn es so scheint, als fände da ein Sterben statt. Es ist die alte Frage, was passiert, wenn die Raupe stirbt? Stirbt sie wirklich oder geschieht hier nur eine Wandlung, eine Transformation von einem erdgebundenen, engen und begrenzten Dasein, hinein in eine völlig andere Dimension von Leben, Wirklichkeit, nämlich die Existenz des Schmetterlings? Was aber ist das Geheimnis der Metamorphose der Raupe über die Puppe zum Schmetterling? Es ist interessant, wie die Biologen diesen Prozess beschreiben. Und wenn wir diese Wandlung der Raupe im eben beschriebenen Sinne als ein Symbol des Lebens verstehen, was sagt dann dieser Prozess über unser Leben aus? Gerne möchte ich das nun Folgende in zwei Ebenen betrachten. Zum einen unsere ganz persönlichen, individuellen Erfahrungen von Wandlung und Veränderung, die wir in unserem Dasein und auf unserem spirituellen Lebensweg machen. Zum anderen aber auch, was wir gerade in der Gesellschaft und in der Welt an eigenartigem Spiel der Kräfte wahrnehmen können. (Von Ukraine über Nahost, Amerika, China, Russland, unsere Bundestagswahl im Februar - um nur wenige Stichworte zu nennen.) Sowohl was unseren persönlichen Lebensweg angeht, als auch was die gesamte Entwicklung in der Welt betrifft, so kommen wir immer mal wieder ins Fragen, wie wird, wie kann das alles nur so weiter gehen? Und manchem wird bei den Gedanken angst und bange. Der Transformationsprozess, den eine Raupe zum Schmetterling erfährt, könnte vielleicht helfen, uns selbst zu verstehen, aber auch das, was im Grossen geschieht, als einen Prozess der Wandlung und Reifung zu sehen. Und am Ende könnte dies uns Hilfe sein, unseren Weg, den wir sowohl im ganz persönlichen Leben als auch als gesellschaftlichen Prozess durchlaufen, anzunehmen, zu gehen und auch gestalten zu lernen. Und nun einige Beobachtungen der Biologen. Wenn sich die Raupe verpuppt, dann beginnt im Innern der Puppe ein unglaublich intensiver Prozess. Es geschieht nämlich, dass das alte Raupenleben sich auflöst und die ersten Schmetterlingszellen auftauchen. Die haben eine andere Qualität, als die der Raupe. Sie haben eine höher schwingende Frequenz, die, wenn man so will, ein anderes, ein neues Bewusstsein in sich tragen. Ein Erleben, das nicht mehr aus dem Erfahrungs- und Lebensbereich der Raupe stammt, sondern aus einer anderen Ebene kommt. Einer Wirklichkeit, die nicht mehr am Boden klebt, sondern aus einer Ebene kommt, in der sich Leben frei entfalten und bewegen kann. Wo der Raum nicht mehr begrenzt ist. Und so lasst uns den Prozess, der mit der Raupe in der Phase der Verpuppung geschieht, genauer betrachten. Was passiert da eigentlich? Die alten Raupenzellen werden sukzessive von den neuen Schmetterlingszellen verdrängt, ja buchstäblich über-lebt. Kennen wir das nicht auch aus unserem Leben, wie alte Überzeugungen, Konditionierungen, Verletzungen, wie alte Muster und Denkgewohnheiten, in dem Moment, wo wir uns ihnen bewusst stellen, langsam aufgelöst werden und Platz machen müssen für andere, neue Erfahrungen und Entwicklungen, die sich ihren Weg in unserem Leben bahnen. Oftmals entsteht so eine eigenartige Spannung; das Alte bleibt sozusagen Grund und Basis für das Neue, das werden will. Es braucht das Alte, dafür dass das Neue werden kann. Und so ist das Alte Teil desselben Wesens, das sich nun wandelt in einen völlig neuen Teil der Zukunft, der aber schon im alten Leben der Raupe repräsentiert wird. Ab einem bestimmten Punkt kommen immer mehr von den neuen Zellen dazu. Das eigene Raupenimmunsystem frisst das Alte auf und auf diese Weise treten immer mehr Schmetterlingszellen ins Leben. Und ab da fangen diese Zellen an, einen Verbund zu bilden. Also sie liieren sich mit anderen und es entsteht überall eine Art Cluster. Das neue Leben entsteht jetzt, indem es von sich her Kraft und Stärke entwickelt und somit das Alte über-lebt. Das Neue überwindet das Alte. Und es ist wichtig, dass das Neue nicht auf das Alte bezogen bleibt oder mit ihm kämpft, denn das bindet wichtige Kräfte, die es zum Wachstum für das neue Leben braucht. Eine uralte Erfahrung, die wir in der Menschheitsgeschichte sehr gut beobachten können, wie sich Systeme, Herrschaftsbereiche immer wieder wandeln und einander ablösen. Aber mancher von uns mag auch diese Wandlung vom Alten in neue Erfahrungs- und Erlebensbereiche aus seinem ganz eigenen Leben kennen. Es ist die Erfahrung, wie wir immer wieder neue Stufen, Veränderungen unseres Daseins durchschreiten. H. Hesse hat dies in seinem Gedicht „Stufen", das ich schon hin und wieder zitiert habe, in wunderbare Verse gebracht: Stufen Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern In andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, An keinem wie an einer Heimat hängen, Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten. Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen; Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde Uns neuen Räumen jung entgegen senden, Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden, Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde! Der Biologe Matthias Forster erklärt den Wandlungsprozess der Raupe zum Schmetterling so: Und das Neue kämpft nicht gegen das Alte, sondern es potenziert sich durch Clustering. Und eines Tages kollabiert das Immunsystem der Raupe und dann geht es ganz schnell und dann gibt es nur noch Schmetterlingszellen. Ein neues Bewusstsein. Aber die neue Form ist dann noch nicht da. Das heisst, die Hülle des Alten der Puppe hält dann dieses neue Bewusstsein zusammen, solange bis durch einen inneren Prozess die neue Form ausgereift ist. Und dann verhärtet die alte Form. Und das ist ganz wichtig. Wenn die alte Form nicht verhärten würde, könnte der Innendruck den Schmetterling nicht sprengen. Und dann ist es auch wichtig, dem Schmetterling, dem darf man nicht helfen. Der Schmetterling braucht die Anstrengung, den Widerstand sich aus der alten Hülle herauszuarbeiten, um an diesem Widerstand die Kraft zu entwickeln, die er braucht, um nachher fliegen zu können, sprich die Freiheit für sich erlangen und leben zu können. Was der Biologe hier beschreibt, scheint mir ganz wesentlich, weil es uns verstehen lehrt, mit den Widerständen in uns, aber auch in dem, was wir in unserer Aussenwelt gerade erleben, konstruktiv umzugehen. Verhärtungsprozesse, die Erfahrung, dass es in uns sehr eng und unerträglich wird, kennen manche von uns. Und es ist uns manchmal schwer, diese Enge und Ängste, die oftmals damit verbunden sind, und die wir auch im Aussen wahrnehmen können, zu würdigen und zu ehren. Und dennoch scheint dieser Druck, der so entsteht, geradezu die Voraussetzung in sich zu bergen, dass alte Muster und Konditionierungen gesprengt werden, damit neuer Raum entstehen, Entwicklung geschehen kann. Auch wenn es sich für das Leben einer Raupe in den verschiedenen Phasen ihres Daseins nicht so anfühlen mag – alles, was mit ihr geschieht, ist jener unglaubliche Prozess des Lebens, der sie durchpulst. Und auch die Momente des vermeintlichen Sterbens sind in der Tat Augenblicke, in denen altes, abgelebtes Leben zu Ende geht. Aber letztlich stirbt da nichts, sondern es passiert eine grosse Wandlung in immer neue Dimensionen unseres Daseins hinein. Das Leben entfaltet sich immer neu und kann letztlich nicht sterben. Wir wissen nicht, was das neue Jahr uns persönlich, aber auch in den grossen Zusammenhängen unseres Miteinanders bringen wird. Aber wir können darauf vertrauen, dass auch im Sterben, im Niedergang alter Muster und Erfahrungswelten, sowohl was unser ganz persönliches Leben angeht, als auch mit Blick auf das, was auf unserer Erde geschieht, das Leben den Sieg davon tragen wird. Dieses Wissen, dieses Vertrauen, kann dem Ganzen einen Sinn geben. Es kann uns auch zeigen, dass es letztlich nicht darum geht, in den Widerstand zu gehen, sondern dass das Clustering, so wie es die Zellen bei der Wandlung der Raupe zum Schmetterling tun, uns helfen wird. Es ist, dass wir uns mit Menschen, die die Zukunft fühlen und leben und gestalten wollen, zusammenfinden, um miteinander als Einzelne und als Gemeinschaft, als Sangha, unseren Weg aufs immer neue zu suchen und zu gehen. Wenn wir uns verbinden, stärken wir einander und potenzieren jene Kraft des Lebens, die durch alles Lebendige geht. Vielleicht sind wir mit dem System, das wir gerade leben, genau in dem Status der Raupe, die gefrässig alles, was vor ihr Maul kommt, auffrisst. Aber dieses System – wir wissen es, glaube ich alle – wird nicht überleben können. Die Schmetterlingskraft ist die Kraft des Lebens, die nach dem erdgebundenen Dasein der Raupe auf uns wartet. Wichtig ist es, dass wir, die wir um diese Kraft wissen, diese leben und weitertragen. Vielleicht ist es das, was wir der nächsten Generation mitgeben können, wenn die sich einmal fragen wird, wie soll es nun weiter gehen? Und damit noch ein letzter Gedanke. Wir sind wohl immer Beides zugleich: Raupe und Schmetterling. Wir sind immer Wandlung. Und in uns sind die Kräfte der Verstockung, der Verhärtung und Vereinzelung. Aber auch die Kraft des Aufbruchs, des immer neu sich schaffenden und schöpfenden Lebens. Im Zusammenspiel dieser Kräfte ereignet sich eine völlig andere Erfahrung von Leben, Lebendigkeit, die jenseits von all dem liegt, was wir bisher kannten: Da gibt es nichts mehr zu beurteilen. Da begegnet uns ein Wissen, das nicht weiss. Da begegnet uns LIEBE. Karl Matthias Uhlich (Hong zhi), Januar 2025
von Meister Hsin Tao 22. Mai 2024
Hsin Tao: Lehrrede
von Shihfu Hsin Tao 2. April 2024
Hsin Tao: Lehrrede
Mehr anzeigen ...
Share by: