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Veränderung und Wandlung

Matthias Uhlich • Okt. 01, 2023

Teisho Veränderung und Wandlung

Auf jedem Sesshin wird am Ende des Tages in der Abendzeremonie jener kleine Zen-Text gesprochen:

„Aus tiefstem Herzen sage ich euch allen:

Leben und Tod sind eine ernste Sache.

Alle Dinge vergehen schell und kein Verweilen kennt der Augenblick.

Darum seid achtsam und ganz gegenwärtig.“


Im Zen wird immer wieder der Augenblick, das Jetzt ganz ins Zentrum der Übung gerückt. Es gibt immer nur dieses Jetzt, diesen Augenblick.


Neben der schönen und tiefen Erfahrung, die wir immer dann machen können, wenn wir die Fülle und Tiefe des Augenblicks erleben, erfahren wir aber immer wieder auch, dass wir die Schönheit, das Glück, das wir gerade erfahren, nicht festhalten können. Wie sehr wir dies uns auch wünschen und es auch immer wieder versuchen.


Anlässlich eines Beerdigungsgespräches erzählte mir einmal eine Mutter, die ihren Sohn schon sehr früh verlor, dass sie einmal mit ihrem Kind einen so tiefen Augenblick des Glückes erlebte, den sie mir so beschrieb: “Ich war in diesem Moment so glücklich, dass ich mich vor Glück am Schrank festhalten musste.“


Manche von uns kennen solche Augenblicke höchsten und tiefsten Glückes.

Und dann wollen wir, dass diese Momente nie vergehen - oder wir möchten sie zumindest wiederholen, wollen diese wunderbare Erfahrung noch einmal so oder so ähnlich wieder machen, haben.

Und in diesem Zusammenhang machen die meisten von uns dann auch die Erfahrung: das geht nicht. 

Wir können nichts festhalten. Unser Leben ist jener unaufhaltsame Strom, jener Fluss, der immer in Bewegung ist, sich wandelt und ständig sich verändert und uns oft genug in anderer, neuer Gestalt - manchmal völlig überraschend für uns selbst - entgegen kommt.


Es ist die ständige Veränderung, die uns manchmal zu schaffen macht. 

Und da gibt es kein Festhalten und auch keine Versicherung, die uns helfen könnten, unser Dasein in irgendeiner Form zu schützen oder gar zu sichern.


Was auf der lebenspraktischen Ebene oftmals nicht wirklich geht, nämlich unser Leben zu sichern, versuchen manche Religionen nun auf der göttlichen Ebene zu erreichen. Rituale, Gebete, Riten - auch mit Opfergaben -, versuchen das Leben von Menschen nun auf einer anderen Ebene zu schützen, und vor Schlimmen zu bewahren.

Aber das Leben scheint oft genug unbestechlich und geht so seinen ganz eigenen Weg mit uns. Und wie oft habe ich in diesem Zusammenhang als Pfarrer Menschen voller Empörung klagen gehört, wenn sie mir sagten, dieser Mensch hat ein so untadliges und frommes Leben geführt, wie kann Gott das nur zulassen, dass es ihn nun so hart trifft?


Und so möchte ich in diesem Zusammenhang fragen, vielleicht geht es gar nicht so sehr darum, dass wir uns vor den Veränderungen oder sog. Schicksalsschlägen in unserem Leben schützen, als vielmehr diese als eine Kraft anzunehmen, die uns wandeln und reifen lassen will und kann.

Hin und wieder habe ich von jener mich so sehr beeindruckenden Erfahrung als Krankenhausseelsorger erzählt, wo ein alter, sterbender Mann mir sagte: „Herr Pfarrer, ich habe mir noch immer meinen Kinderglauben bewahrt.“

Wäre das wirklich der Sinn unseres Lebens?

Wäre das wirklich der Sinn von Religion, Menschen vor Veränderungen jeglicher Art, zu schützen und zu bewahren, und Erfahrungen, die unseren Glauben, unser Dasein bedrohen abzuwenden?

Oder ginge es gerade andersherum darum, auf unserem spirituellen Weg gerade durch die Veränderungen - und in diesem Zusammenhang manchmal auch durch Krisen hindurch - Wandlung, Verwandlung - und vielleicht auch Wachstum und Reifung zu erfahren?


Lasst mich die beiden Begriffe Veränderung und Wandlung für dieses Teisho einmal genauer bestimmen.

Mit Veränderung in diesem Zusammenhang meine ich jenen Prozess, dem wir alle unterliegen und den die Alten Griechen mit den Worten: „panta rhei“ (Heraklit), „Alles fliesst“, beschrieben haben. Damit sind jene Erfahrungen gemeint, die von Aussen auf uns zukommen, die wir nicht in der Hand haben, und die uns immer wieder dazu bringen, uns und unser Dasein an das anzupassen, was durch das äussere Leben auf uns zukommt.

Es ist wohl unbestreitbar, dass wir mit unserem Leben in den äusseren Strukturen und in deren Veränderungen oft unausweichlich eingebunden sind, und aus denen auch niemand wirklich aussteigen kann.

Aber wenn es uns gelingen kann, diese von aussen auf uns zukommende Kraft auf- und anzunehmen, dann geschieht nach innen hin mit uns eine Wandlung.

Oft genug kommt uns dieser Prozess aber schwer an, weil wir gerne das haben und festhalten würden, in dem wir uns eingerichtet hatten und möchten, dass dies auch auf immer so bleiben sollte.

Aber gerade die Krisen sind es, die uns immer wieder aus unseren Konzepten und lähmenden Gewohnheiten heraus reissen und uns dann, in einem manchmal sehr schmerzhaften Prozess, wieder in den lebendigen Fluss des Lebens bringen.


Ein alter Chinesischer Meister, Hong-Zhi sagt:

"Das Wesentliche ist, innerlich offen und flexibel zu sein und äusserlich ohne Hast auf die Dinge einzugehen. Sei wie der Frühling, der Blumen erblühen lässt, wie ein Spiegel, der Bilder widerspiegelt, und du wirst über allem Tumult erhaben sein.“


Wenn es uns gelingen kann unser Leben, in dem wir stehen, einmal ganz nüchtern zu betrachten, dann merken wir, dass all das, was so fest und sicher scheint, es im Grunde gar nicht ist. 

In manchen Situationen blitzt es schlagartig auf, wie fragil, wie verletzlich unser Dasein ist, und wie buchstäblich von einem Augenblick zum anderen sich das Blatt unseres Lebens wenden kann und wie schnell wir mit „leeren Händen vor einem Berg von Trümmern stehen, wo wir doch glaubten, dass alles so sicher und unverbrüchlich sei.“


Bitte versteht mich nicht falsch, ich möchte unser Leben nicht klein oder gar schlecht reden. Im Gegenteil, mir geht es um die Fülle und Schönheit unseres Dasein, um seine Würde und Grösse, in die hinein wir uns wandeln können, sollen, ja müssen - auch oftmals unter Schmerzen, weil alte Verletzungen und Konditionierungen, weil die Glaubenssätze, die wir von Kindesbeinen an gelernt haben, es verhindern wirklich frei und lebendig zu sein.


Und dann merken wir es manchmal, dass das vermeintlich rettende Ufer gar nicht so da ist, wie wir immer glaubten. Auch das Ufer selbst ist Teil des ständigen Wandels, es gibt letztlich gar keinen festen Grund, auf dem wir uns sichern könnten.


Der Sufi-Mystiker Kabir hat diesen wunderbaren Text verfasst:


Zu welchem Ufer willst du gelangen, mein Herz?

Es gibt keinen Weg und niemand,

der dir vorangeht.

Was heißt schon Kommen und Gehen?

An jenem Ufer kein Boot

und kein Fährmann das Boot zu verankern.

Da gibt es weder Himmel noch Erde,

weder Zeit noch irgendein Ding,

kein Ufer und keine Küste.

Bedenke es wohl, mein Herz!

Gehe nicht anderswohin.


Das Leben ist ein Fluss und wir sind mittendrin, ja wir sind Teil dieses Fliessens. Wir gehören mitten da hinein. Wir selbst sind Fluss, sind lebendiges Fliessen. Und eben darum gib es kein Ufer und keine Küste

Aber das genau macht uns auch Angst und wir ergreifen lieber eine Wurzel oder einen Ast am vermeintlich sicheren Ufer, an dem wir glauben uns festhalten zu können. 

Oft genug meinen wir dann, dass unsere Glaubenssätze aus der Kindheit oder die wir von anderen übernommen haben, uns tragen oder gar retten könnten. 

Aber wir sind Fluss, und wir sind Leben und wenn wir uns irgendwo anklammern, festhalten, anhaften, können wir nicht mehr mitfliessen. Unser Leben kommt zum Stillstand, wir verrennen uns in einem dunklen Tunnel und nichts bewegt sich mehr.

Im Grunde sind dies dann Menschen, die zwar noch leben, aber innerlich allem Lebendigen völlig abgestorben scheinen.

Und dabei sind die Argumente aus der Angst für unsere Ratio durchaus nachvollziehbar. Wir müssen uns unbedingt festhalten, denn das Fliessen des Flusses ist nicht berechenbar. Es könnte ein Fels kommen oder eine Stromschnelle oder andere, unkalkulierbare Gefahren könnten über uns herein brechen.

Wir haben Angst vor der Lebendigkeit des Flusses, schliesslich wissen wir ja nicht wohin das führen wird. Und diese Angst macht es, dass wir festhalten und verkrampfen. Und oft genug suchen sich in diesen Momenten Menschen auch solche „Helfer“, die ihnen raten, ja halte fest, wo wirst du sonst hinkommen! Bleibe deinen Glaubenssätzen treu, wo wird dich das sonst noch hinführen! 

Aber unsere Zweifel und Ängste lähmen uns. Und unsere vermeintlichen Gewissheiten lassen keine Veränderung, Wandlung, Reifung zu.

Genau darum hat man manchmal auch von älteren und alten Menschen den Eindruck, dass sie in ihrem Leben eigenartig unreif und eng geblieben sind. Um das Bild aufzunehmen, dass sie wie unüberwindliche, feste Felsen scheinen, die im lebendigen Fliessen des Lebens starr und unverrückbar geblieben sind.


Was wir brauchen ist Mut und gutes Vertrauen ins Leben, in den Fluss des Lebens selbst. Aber irgendwie trauen wir der Sache doch nicht ganz.

Alte Verletzungen, Erfahrungen aus der Vergangenheit, Verbote, Tabus halten uns zurück.


Es ist aber wichtig, dass wir unser Vertrauen ins Leben finden. Und das ist oftmals auch das Vertrauen zu uns und unserem Leben selbst. Dass wir jenem lebendigen Fluss, der unser Leben von Anfang war und der es auch getragen hat, in uns entdecken und spüren und leben lernen.


Natürlich wird es auf dieser Fahrt dann immer wieder auch Stromschnellen geben. Wir werden auch Felsen in der Brandung begegnen aber wir müssen uns davor nicht fürchten, denn je öfter wir auf dem Fluss uns solchen Situationen stellen um so leichter können wir lernen auch diese zu meistern. Und manchmal wird auch der Fluss unseres Lebens ruhig dahin fliessen. Wir werden die Schönheit und die immer neue Fülle unseres Daseins auf dieser Reise erfahren und spüren - und sie wird unser Leben wunderbar erfüllen. 

Wir erfahren wie Schmerz uns wandeln kann, wie alte Wunden zu heilen beginnen und wie gerade darin Wandlung und Reifung geschieht. 


Es gibt Phasen in unserem Leben, wo wir manchmal ziemlich abrupt zu einer Änderung unseres Lebens mehr oder weniger gezwungen werden. Z.B. wenn eine Krankheit uns deutlich signalisiert, dass wir den bisherigen Lebensstil so nicht mehr fortsetzen können, dürfen. Aber auch, wenn Beziehungen zerbrechen oder sich verändern. Wenn wir Partner/innen oder Freunde verlieren. Wenn durch Krankheit oder Tod eines uns nahen Menschen mit einem Male sich unsere ganze Lebenssituation völlig verändert.

Dann passiert es, dass wir durch eine äussere Veränderung zu einer inneren Wandlung genötigt, ja fast gezwungen werden, weil es eben keinen anderen Ausweg mehr gibt und wir uns einfach nur noch der Realität stellen müssen.

Das kann in der Tat Menschen dazu bringen zu erstarren und zu verhärten. Das kann aber auch dazu helfen, dass Menschen sich noch einmal dem Leben öffnen und so durch die Krise hindurch wieder ganz neu mit dem Leben sich verbinden.


Aber es gibt auch die andere Erfahrung, nämlich, dass die Verwandlung allmählich und langsam sich vollzieht. Ein langsamer Wandel unseres Lebens, unseres Wesens geschieht. Das ist oft über längere Zeiträume hinweg und manchmal merken wir dies selbst gar nicht so genau. Und da ist es gut, wenn andere Menschen es uns sagen können, wieviel sich in und an uns gewandelt hat.


Aber wie auch immer, ob es plötzlich kommt, dass Ereignisse in unser Leben treten und uns zu einer Veränderung, Wandlung nötigen oder ob es ein langsamer Prozess der Wandlung und Reifung in unserem Leben ist, ich glaube, dass die einfache, regelmässige Übung des Sitzens in der Stille, uns in allen Lebenssituationen helfen kann. 

Jene einfache Übung, in der es immer wieder nur darum geht, mich in der Stille, im offenen Raum des Lebens wahrzunehmen und an nichts anzuhaften und mich in dem auszuhalten, was gerade auf meinem Lebensweg ist. Das allein schon kann uns helfen, dass sich unser Leben in einer guten Weise immer wieder neu ordnen und zur Reifung kommen kann. 

Dadurch, dass mehr und mehr die vielen Gedanken und Emotionen, die „Hamsterräder“ in denen wir uns oftmals so aufgeregt bewegen, zur Ruhe kommen, beginnt ein Prozess der Wandlung und ein Weg, der uns immer mehr in die eigene Tiefe führt.

Und so wie jeder Fluss, der sich dem Meer nähert, immer tiefer, breiter und auch ruhiger wird, so kann es mit unserem Lebensfluss, mit unserem Leben selbst, auch geschehen. Stromschnellen und Felsen, Flussengen und Strudel liegen nun auf der Reise ins Meer weit hinter uns. Vor uns liegt dann das Einswerden mit allem, was schon immer da war und auch immer schon ist: das Meer, das Wasser, das fliessende Leben selbst. 


H.Hesse

Stufen

 

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe

Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

In andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

An keinem wie an einer Heimat hängen,

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

Uns neuen Räumen jung entgegen senden,

Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

(4. Mai 1941)


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